RNA-Technologie: Bald die wichtigste Medikamentenklasse der Zukunft?
Durch die Corona-Pandemie beschleunigte sich die RNA-Entwicklung um mindestens fünf bis zehn Jahren. Ist die RNA-Technologie bald das Medikament der Zukunft?
Das Wichtigste in Kürze
- Dank der Corona-Pandemie hatte die RNA-Technologie ihren grossen Durchbruch.
- Laut einem Analysten kann man mit der RNA-Technologie alle Krankheiten behandelt.
In Krisenzeiten ist vieles möglich. Diese einfache Weisheit gilt auch für die Corona-Pandemie und die neuartigen RNA-Impfstoffe, mit denen ihr Einhalt geboten wurde. Ohne die Pandemie hätte die RNA-Technologie womöglich noch länger auf ihren Durchbruch gewartet.
RNA nicht als Impfstoff vorgesehen
Völlig neu ist diese Therapie-Form aber nicht, denn die Forschung beschäftigt sich schon länger mit RNA - nur als Impfstoff war sie zunächst gar nicht vorgesehen.
In Corona-Zeiten wurden die neuartigen Impfstoffe dann nicht nur in Windeseile erforscht, sondern auch noch im gleichen Jahr zugelassen, in dem das Coronavirus auf der Bildfläche erschienen war.
Mittlerweile sind Milliarden an Menschen damit geimpft worden und in vielen Fällen konnte ein kritischer Krankheitsverlauf vermieden werden. Nach diesem Durchbruch hat die RNA-Technologie das Zeug, die wichtigste Medikamentenklasse der Zukunft zu werden.
2019 hätte es keinen Impfstoff gegeben
Dass die Therapie genau zu diesem Zeitpunkt verfügbar und eine Option war, war alles andere als selbstverständlich. Wäre die Pandemie nämlich ein Jahr früher ausgebrochen, wäre die Forschung noch nicht so weit gewesen und der Impfstoff hätte nicht hergestellt werden können, erklärte kürzlich Biontech-Chef Ugur Sahin.
«RNA-Therapien werden seit mehr als 25 Jahren entwickelt», sagt Analyst Stefan Schneider von Vontobel im Gespräch mit AWP Finanznachrichten. «Heute sind mittlerweile etwa 18 RNA-basierte Arzneien zugelassen, von denen 15 alleine in den letzten fünf Jahren grünes Licht erhalten haben, die beiden Corona-Impfstoffe inklusive.»
Gerade der Erfolg der beiden Vakzine - auch der kommerzielle - lockt sowohl Investoren als auch weitere Unternehmen an, sich mit dem Therapie-Ansatz zu beschäftigen. Für den Analysten Schneider könnten RNA-Therapien die führende Arzneiklasse der Zukunft werden.
Bei der RNA-Technologie ist alles anders
Spannend an der RNA-Technologie ist ihre komplett andere Arbeitsweise. Wie Schneider erklärt, zielt die herkömmliche Arzneimittelentwicklung darauf ab, die Funktionen des Zielproteins zu modulieren, um den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Dafür muss das Medikament das Zielprotein erkennen und daran anbinden können. Da aber nicht alle Proteine eine spezifische Struktur aufweisen, ist das nicht immer möglich.
«Leider können herkömmliche Technologien zur Entwicklung von Arzneimitteln nur ein Drittel der Proteine beeinflussen, von denen man annimmt, dass sie mit Krankheiten in Verbindung stehen», rechnet der Experte vor. RNA-Therapeutika allerdings «sind eine neue Klasse von Medikamenten, die die Tür zu allen Proteinen und sogar darüber hinaus öffnet.»
RNA-Medikamente können laut Schneider entweder so entwickelt werden, dass sie analog der traditionellen Medikamente an die Zielproteine binden. Oder aber sie werden so entworfen, dass sie in den Aufbauprozess der Zielproteine eingreifen - und somit die krankmachenden Proteine gar nicht erst entstehen. «Da dieser Prozess nicht auf Strukturerkennung basiert, ist er - auf Papier - für alle Proteine denkbar.»
Mit RNA alle Krankheiten behandeln
Wie der Octavian-Analyst Michael Nawrath ergänzt, kann man mit RNA im Grunde alle Krankheiten behandeln. «Bei RNA verabreicht man dem jeweiligen Patienten individuell quasi den Bauplan für das entsprechende Effektorprotein - noch personalisierter als diese Technologie geht es nicht.»
«Dabei ging es in der RNA-Forschung an sich nie um Corona-Impfungen, sondern um den Einsatz dieser Technologie etwa in der Krebsforschung», hebt Nawrath hervor. Tatsächlich werden bis auf die beiden Corona-Impfstoffe die übrigen bereits zugelassenen RNA-Therapien für Augenkrankheiten, zur Behandlung von Leber- und Nierenerkrankungen, als Cholesterinsenker und zur Behandlung erblich bedingter Muskelerkrankungen eingesetzt.
Aktuell laufen mehr als 160 Forschungsprogramme, davon nur etwa ein Drittel mit dem Covid-19-Virus. In den übrigen Programmen geht es um den Einsatz dieser Therapie, etwa als Krebs-Vakzine. In dieser Liste, die das Beratungsunternehmen EY zusammengestellt hat, tauchen auch Schweizer Unternehmen wie der Grosskonzern Roche oder das Biotechunternehmen Versameb auf.
Pharmaunternehmen erzielen grosse Erfolge
Sowohl Roche als auch Branchenkollege Novartis haben beide in den letzten zwei Jahren bereits eigene RNA-Therapien auf den Markt gebracht. So hat sich Novartis über den Zukauf des US-Unternehmens The Medicines im Jahr 2019 den Kandidaten Inclisiran ins Portfolio geholt. Der Cholesterinsenker hat mittlerweile auch in den USA die Zulassung erhalten und dürfte nach Ansicht des Novartis-Managements eines der wichtigsten Medikamente in der Unternehmensgeschichte werden.
Roche wiederum hat 2020 in den USA die Zulassung für Evrysdi erhalten, einer Therapie zur Behandlung der erblichen Muskelerkrankung SMA (spinale Muskelatrophie).
Mit Blick auf die Pipeline erscheint diejenige von Roche derzeit etwas praller gefüllt. So hat der Konzern derzeit zwei Projekte in der Phase I, drei in der Phase II und eines in der Phase III. Darüber hinaus hat der Konzern eine Vielzahl an Kooperationen beispielsweise mit Unternehmen wie Ionis, die zu den Pionieren der RNA-Forschung zählen.
RNA-Entwicklung hat sich um fünf bis zehn Jahre beschleunigt
Wie Analyst Schneider von Vontobel ergänzt, gehörten die beiden Schweizer Schwergewichte zu jenen Grossunternehmen, die sich schon früh für die vielversprechende RNA-Technologie interessierten, sich dann aber vorübergehend wegen der ausbleibenden Durchbrüche wieder verabschiedeten, bevor sie dann vor einigen Jahren wieder einstiegen. «Unter den grossen Pharmakonzernen stehen Roche und Novartis im Vergleich zu den meisten ihrer Konkurrenten an vorderster Front», fasst der Experte zusammen.
Klar ist im dritten Jahr der Corona-Pandemie, dass sich die RNA-Entwicklung dank der nun verfügbaren Datenmengen und der Milliarden an Forschungsgeldern um mindestens fünf bis zehn Jahre beschleunigt hat. «RNA war ein fremdes Konzept - heute geht es jedem wie selbstverständlich über die Lippen», fasst es die Forschungschefin eines US-Biotechs zusammen.