Libanon: Ein Staat im freien Fall
Schon vor der Katastrophe in Beirut war das Leid gross. Korruption und Misswirtschaft haben den Libanon in den Ruin getrieben. Einige sehen die Lösung im Krieg.
Das Wichtigste in Kürze
- Mindestens 150 Menschen sterben bei einer gewaltigen Explosion in Beirut.
- Nur die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg hat das Land vor einem erneuten Krieg bewahrt.
15 Jahre wütete im Libanon ein verstrickter Bürgerkrieg mit mehreren Massakern und rund 90'000 Todesopfern. Doch zur Ruhe kam das Land auch nach dem Ende des Bürgerkrieges nie. Mehrere Präsidenten, Ministerpräsidenten und andere Politiker wurden auch nach dem Krieg ermordet.
Das bekannteste Opfer: Rafiq al-Hariri. Der kurz zuvor zurückgetretene Premierminister kam bei einem Anschlag auf seinen Fahrzeugkonvoi im Februar 2005 ums Leben.
Auch international wurde das Land kaum unabhängig. Bis 2005 war es praktisch syrisches Protektorat. Auch Israel besetzte bis 2000 Gebiete des Landes. Im Konflikt mit der Shiiten-Miliz Hisbollah marschierten israelische Truppen 2006 erneut im Süden des Libanon ein.
Und dann eben besagte Hisbollah. Die «Partei Gottes» – ein Zusammenschluss schiitischer Gruppen im Kampf gegen die damalige israelische Invasion – ist heute quasi ein «Staat im Staat». Nicht nur ist sie eine militärische Macht im Land und darüber hinaus. Auch ist sie seit 1992 über ihre Partei politisch in die Nationalversammlung eingebunden.
Kollaps des Libanons scheint unausweichlich
Das Land zählt laut einer CIA-Schätzung rund 5,5 Millionen Einwohner. Und das auf einer Fläche viermal kleiner als die Schweiz. Rund ein Viertel davon sind Flüchtlinge.
Über 400'000 palästinensische Flüchtlinge leben gemäss offiziellen Zahlen im Land. Teilweise in dritter Generation, aber ohne weitere Rechte. Ab 2011 kamen rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtigen hinzu.
Auf einen Schlag hatte das Land mehr schulpflichtige syrische als libanesische Kinder. Die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich innerhalb zwei Jahren auf 20 Prozent. 40 Prozent aller Arztbesuche entfielen auf syrische Flüchtlinge.
Für den sonst schon gebeutelten Zedernstaat eine kaum zu bewältigende Herkulesaufgabe, die noch immer nachhallt. Und besonders jetzt während der Corona-Krise scheint der Kollaps unausweichlich: In den letzten acht Monaten verlor das libanesische Pfund mehr als 80 Prozent an Wert.
Die Preise schossen in die Höhe. Lebensmittel wurden knapp. Viele Cafés, Restaurants, Einzelhändler mussten schliessen. Strom und Internet immer wieder unterbrochen.
Knapp 60 Prozent der Einwohner sind arbeitslos. Millionen von Menschen droht der Hunger. So schlimm sei es nicht mal im Bürgerkrieg gewesen, so sagen ältere Libanesen zynisch.
Mit ein Grund ist das politische System mit demokratischen und autoritären Elementen. Es wird beherrscht von den Eliten aus verschieden religiösen Gruppen. So muss das Staatsoberhaupt maronitischer Christ, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim, der Regierungschef sunnitischer Muslim und der Oberbefehlshaber der Armee ein nicht-maronitischer Christ sein.
Ein System, das Klientelismus begünstigt. Jede Gruppe schaut für sich, was Korruption und Misswirtschaft Tor und Tür öffnet.
«Was für ein Karma hat unser Land»
Und jetzt gleicht Beiruts Hafen – wohl die wichtigste Lebensader des Landes – einem Ground Zero. «Ich weiss nicht, was für ein Karma unser schönes Land hat – es ist, als ob wir nochmals den Krieg durchleben», so eine Libanesin gegenüber SRF-«Heute Morgen». Sie könne nicht nochmals einen Krieg durchstehen.
Diese Angst ist es, die das Land vor einem erneuten Bürgerkrieg bewahrt hat. Wie ein Domokles-Schwert an einem seidenen Faden sozusagen.
Doch einige frustrierte junge Libanesen, die den Bürgerkrieg nicht mehr miterlebt haben, sehen nur noch in einem erneuten «blutiger Krieg» die bitter nötige Katharsis für das Land. Im Libanon sei es leider weit verbreitet, über einen möglichen Krieg zu sprechen, erklärte eine libanesische Politikanalystin jüngst dem «Deutschlandfunk».