Abriss in Schwamendingen – übrig bleiben Müllberge und Not
In Schwamendingen verschwinden 152 Wohnungen. Viele Bewohnende verlassen Zürich, wechseln in prekäre Mietverhältnisse oder kommen in Übergangswohnungen unter.
Das Wichtigste in Kürze
- In Zürich Schwamendingen verschwinden 152 günstige Wohnungen.
- Viele Mieterinnen und Mieter müssen Zürich verlassen, weil die Mieten zu teuer sind.
- Einige müssen sogar in Übergangswohnungen unterkommen – oder verlassen die Schweiz.
Geht es nach Maria Imhof, werden heute keine Tränen vergossen. 63 Jahre hat sie in der gelben Siedlung in Zürich Schwamendingen gewohnt. Die zehn Wohnblöcke weichen nun einem Neubau, der Abbruch beginnt demnächst. Es herrscht Aufbruchstimmung.
Imhof hat ihre Wohnung bereits verlassen und wohnt jetzt unweit ihres alten Zuhauses im Altersheim in Schwamendingen. Wegen der Blumen ist sie nochmals zurückgekommen. In der Hand hält sie einen Strauss, gepflückt für ihr neues Zimmer. Ihre Wohnung habe sie sauber abgegeben, versichert sie.
An diesem Tag Ende September stehen mehrere Umzugswagen in der Grosswiesenstrasse, auf den Gehwegen wuseln Bewohnende hin und her. Mittendrin steht Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband und einige Mietaktivistinnen und -aktivisten, die sich an diesem Morgen solidarisch zeigen, Umzugskartons mitschleppen und ein Auge auf die Wohnungsabgaben werfen.
Die Siedlung gehört der Zurich Invest AG, einer Tochtergesellschaft der Zurich Versicherung. Im Oktober wird die Siedlung abgerissen. Die Gebäude aus den 50ern sind zwar in die Jahre gekommen, doch eine etappenweise Renovation hätte es auch getan, waren sich Bewohner im April sicher, als sie damals mit Tsüri.ch sprachen.
Die Eigentümerin sieht das anders und möchte hier 255 Neubauwohnungen bauen. Zwar beteuert Zurich Invest keine Luxusappartements zu errichten, dennoch ist mit einem Anstieg der Mietpreise zu rechnen.
Sie verlassen die Stadt nach Buchs, Bremgarten und Malaysia
Während Maria Imhof die letzten Blumen für ihren Strauss sammelt, bewältigen drei Männer von einem Räumungsservice Berge an Müll – oder versuchen es zumindest.
Viele Mieterinnen und Mieter haben Teile ihres Hausrats zurückgelassen. Mikrowellen, Kissen, ein Glas Erdnussbutter, ein Terrarium, Weihnachtskugeln liegen vor den Eingängen und entlang der Wege, welche die Häuser der Siedlung verbinden.
Ein trauriges Bild, doch dafür seien längst nicht nur sie selbst verantwortlich, sagt Kristian Blume, der in der Siedlung gewohnt hat: «In der Nacht kamen Leute aus dem Quartier und haben ihren Müll hier deponiert.» Auch seien Möbel, die in gutem Zustand waren, abgeholt worden. «Abgefahrene Stimmung hier», meint er. Sein Feuerzeug springt nicht an, es landet schnurstracks beim restlichen Müll.
Aus einer Wohnung dringen Sauggeräusche. Lohnt sich das, wo doch sowieso abgerissen wird? «So will es die Verwaltung», sagt Blume. Die Wohnungen müssen seinen Aussagen zufolge besenrein, die Fenster sauber, die Lampen demontiert sein.
Blume wohnt seit über 20 Jahren in Zürich. Dass er Sozialhilfe bezieht, habe die Wohnungssuche nicht vereinfacht. Noch Anfang September war unklar, wohin er gehen soll. Zur Sicherheit hat er sich bereits ein möbliertes Apartment reserviert. «Das ist die Situation, wenn man übrig geblieben ist. Wir alle sind angeschlagen», sagte er damals am Telefon.
Ende September dann die SMS: «Zum 1.10. Wohnung gefunden.» Gefolgt von einem Emoji, das Tränen in den Augen hat. Zusammen mit seiner Partnerin zieht er nun weiter ins Zürcher Unterland nach Buchs.
Mit diesem Schicksal ist er längst nicht alleine. Viele müssen Zürich verlassen. Eine ältere Frau kreuzt den Weg. Ihr neues Zuhause befinde sich in Bremgarten, erzählt sie. Nach drei Jahren in Schwamendingen hat Shian Lin Wee genug: Sie geht zurück nach Malaysia. Gerne wäre sie in der Schweiz geblieben, doch der Wohnungsmarkt zermürbte sie. «Die Suche hat so viel Zeit und Energie gefressen, irgendwann sah ich keine andere Option», sagt Wee. In wenigen Tagen geht ihr Flug.
Zu viert in einem Zimmer
Nicht alles, was nicht gezügelt werden kann, landet auf den Müllbergen. Azam und Sinthia suchen noch Abnehmende für ihre Chilipflanzen. Die vierköpfige Familie hat auf dem regulären Wohnmarkt keine Wohnung gefunden. Sie ziehen in eine städtische Notunterkunft für Familien.
Das Angebot richtet sich explizit an Familien, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, sagt Nadeen Schuster von den Sozialen Einrichtungen und Betrieben der Stadt Zürich. Als Familie erhalte man ein möbliertes Mehrbettzimmer. Nasszellen, Toilette, Küche und Aufenthaltsräume werden mit anderen Familien geteilt. Da bleibt kein Platz für Pflanzen.
«Ich kann nicht gut schlafen», sagt Azam. Die ganze Situation sei für die Familie belastend. Zwei Jahre hätten sie in Schwamendingen gewohnt. Die 4-Zimmer-Wohnung für 1640 Franken sei schön gewesen. Die Kinder hätten sich wohlgefühlt, Freundschaften im Quartier und in der Schule geschlossen.
Sechs Monate kann eine Familie in der Notunterkunft der Stadt Zürich bleiben. Falls keine Anschlusslösung gefunden wird, sind Verlängerungen möglich. 140 Franken kostet ein Zimmer pro Tag, sozialpädagogische Betreuung durch Fachpersonen vor Ort sind dabei inklusive. Die Betreuung fokussiert darauf, gemeinsam mit den Familien eine Anschlussmöglichkeit zu finden.
Stadt mietet private Übergangswohnungen für Notfälle
Nebst solchen Notunterkünften gibt es für Familien auch das Übergangswohnen, erklärt Schuster. Beim Übergangswohnen wird der Familie eine eigene Wohnung zur Verfügung gestellt.
Das Angebot richte sich an Familien und Einzelpersonen, die bereits seit zwei Jahren in Zürich wohnhaft waren, Betreuungsbedarf haben und bei denen man davon ausgeht, dass sie mit etwas Unterstützung wieder eine Wohnung auf dem regulären Markt finden werden. Die Wohnungen sind für Familien auf zwei Jahre, für Einzelpersonen auf ein Jahr begrenzt.
Die Sozialen Einrichtungen und Betriebe «sind aber keine Wohnungsvermittlungsstelle»: Wer in diesen Angeboten unterkommt, benötigt Unterstützung im Bereich Wohnen. Die meisten Klientinnen und Klienten beziehen wirtschaftliche Sozialhilfe und tragen die Wohn- und Betreuungskosten nicht selbst, so Schuster.
Frida Nufer kurvt mit einer Kiste in den Händen gekonnt an den Bergen an Müll vorbei. Sie ist mit ihrer Tochter auf dem Weg in ein Appartementhotel in Seebach. Für zehn Tage würden sie da unterkommen. Danach habe sie eine Übergangswohnung an der Sihlquaistrasse im Kreis 5. Zwei Zimmer, 1900 Franken.
Insgesamt hat die Stadt rund 150 Wohnungen für das Übergangswohnen für Familien zur Verfügung und rund 45 Wohnungen für Einzelpersonen und Paare. Diese Wohnungen werden von der Stadt angemietet.
Aktuell könne man die Nachfrage decken. Bei Familien sei sie über die letzten Jahre hinweg konstant, heisst es bei der Stadt. Einen Anstieg verzeichnet man hingegen beim Übergangswohnen für Einzelpersonen und Paare. Da es sich dabei um ein relativ neues Angebot handelt, seien die Zahlen noch nicht aussagekräftig.
«Zurich Invest verdrängt euch doch selbst», steht auf einem Banner an der Ecke der Siedlung – gehisst von einer Gruppe Mietaktivistinnen und -aktivisten. Eine Mitarbeiterin der zuständigen Verwaltung fragt nach dem Absender. Ein Mann zuckt mit den Schultern, es scheint ihm ziemlich egal zu sein. Die Verwaltungsmitarbeiterin mit Klemmbrett unter dem Arm macht sich auf zur Abnahme der nächsten Wohnung.
Tiegsti Teklebrhan hat ihre Wohnung bereits abgegeben, sie hält ihre beiden Kinder an der Hand. Ihre Destination: 2-Zimmer-Wohnung Altstetten, 1840 Franken, ebenfalls Übergangswohnen. «Wir teilen uns zu dritt ein Zimmer, das ist viel zu wenig Platz für Kinder», sagt sie, «doch was bleibt uns übrig?»
Übrig bleiben wird in Schwamendingen an der Grosswiesenstrasse keine der 152 günstigen Wohnungen. Wer vor dem 30. September eine Bleibe gefunden hat, kann sich glücklich schätzen. Für alle anderen geht die Suche weiter.
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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Autorin Lara Blatter ist Mitglied der Co-Geschäftsleitung und Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.