Armut: Kein Schwimmkurs – so leiden arme Kinder in Schweiz
Kinder und Jugendliche leiden in der Schweiz besonders oft unter Armut. Organisationen gehen von bis zu 100'000 Betroffenen aus.
Das Wichtigste in Kürze
- Eine neue Studie zu Armut zeigt, dass Kinder und Jugendliche am meisten betroffen sind.
- Total seien es 76'000 Kinder, sagt die Skos. Die Caritas spricht gar von 100'000.
- Armutsbetroffene Kinder seien in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt.
2022 lebten rund 269'000 Menschen unter 18 Jahren unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze. Das sagt eine Mitte Oktober erschienene Studie zur materiellen Situation von Kindern und Jugendlichen aus.
Konkret heisst das: Über 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz leben in Armut oder drohen in die Armut abzurutschen.
Aline Masé, stellvertretende Bereichsleiterin Grundlagen und Politik von Caritas Schweiz, sagt dazu: «Mehr als jedes sechste Kind in der Schweiz hat kaum genug zum Leben.» Das bedeute, dass in jeder Schulklasse mindestens drei Kinder sitzen würden, die von Armut betroffen oder bedroht seien.
Kinder und Jugendliche erhalten am häufigsten Sozialhilfe
Es seien 76'000 Kinder und Jugendliche, die in der Schweiz von der regulären Sozialhilfe unterstützt würden. Das erklärt Ingrid Hess, Sprecherin Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Das sei mit 4,8 Prozent «der höchste Wert unter allen Altersgruppen».
Die Caritas geht sogar von noch mehr Kindern aus. Masé sagt dazu: «Die Armutsgrenze des BFS orientiert sich an der Sozialhilfegrenze. Unter der Armutsgrenze, sprich dem Existenzminimum der Sozialhilfe, leben rund 100'000 Kinder.»
Aber wann gilt ein Kind genau als armutsbetroffen?
Hess dazu: «Die Armutsgrenze wird von den Richtlinien der Skos abgeleitet. Sie betrug 2022 durchschnittlich 4010 Franken für zwei Erwachsene mit zwei Kindern.»
Von diesem Betrag müsse man Ausgaben des täglichen Bedarfs decken. Das seien Essen, Hygiene, Mobilität, die Miete und weitere Posten, nicht jedoch die Krankenkassenprämien.
«Viel zu tief»
Das sorgt für Kritik.
Aline Masé meint: «Aus Sicht von Caritas ist die Armutsgrenze, die sich am Existenzminimum der Sozialhilfe orientiert, viel zu tief.» Davon müssten nebst den oben genannten Dingen auch «Haushaltsführung, Internet, Handy, TV, Versicherungen, Freizeit, Bildung und so weiter bezahlt werden».
Das sei ein Problem, denn: «Die Teilhabe an der Gesellschaft ist damit nicht möglich. Die Studie zeigt auf, dass die Sozialhilfe zu tief ist und die negativen Folgen von Armut für Kinder nicht reduziert.»
Die Caritas orientiere sich an der Armutsgefährdungsgrenze, die das Bundesamt für Statistik jährlich berechne. Und die liege für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 5432 Franken pro Monat.
«Diese Grenze geht davon aus, dass auch ärmere Menschen in der Schweiz an der Gesellschaft teilhaben sollen», so Masé.
Arme Kinder können nicht in Schwimmkurs oder ins Museum
Aber was bedeutet es für Kinder und Jugendliche konkret, von Armut betroffen zu sein? Simon Bucher, Pressesprecher der Heilsarmee, sagt dazu: «Kinder können an öffentlichen Angeboten nicht teilnehmen, die die Entwicklung fördern.»
Dazu gehöre beispielsweise ein Schwimmkurs. Auch seien Freizeitaktivitäten stark eingeschränkt – es sei zum Beispiel nicht möglich, ins Museum zu gehen.
Das bekräftigt auch Aline Masé: «Kinder, die von Armut betroffen sind, sind in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe und in den Bildungschancen eingeschränkt.»
Das heisse beispielsweise, dass sie in ihrer Freizeit nicht mit den Eltern in den Zoo gehen könnten. Oder nicht mit auf einen Ausflug mit Freunden gingen, weil dies nicht im Budget liege.
Masé weiter: «Betroffene Kinder haben auch meist keine Möglichkeit, ausserschulischen Nachhilfeunterricht zu besuchen. Das schmälert ihre Bildungschancen.»
Ingrid Hess erklärt: «Kinder, die in einem Elternhaushalt leben, der von der Sozialhilfe mitunterstützt wird, erfahren häufig Einschränkungen zu schulischen Unterstützungsangeboten. Diese Einschränkungen erschweren den Kindern eine gute Ausbildung, was meist der Schlüssel wäre, um dereinst der Armut zu entfliehen.»
Arme Kinder haben öfter gesundheitliche Probleme
Kinder aus einer armen Familie hätten auch schlechtere Entwicklungschancen und häufiger gesundheitliche Probleme. Diese würden sich dann vor allem mit zunehmendem Alter zeigen.
Ein Caritas-Interview mit einer betroffenen Familie von 2017 zeigt, wie sich Armut auf den Alltag auswirken kann. Darin erzählt die siebenjährige Olivia, sie dürfe nur Kleider mit roten Kleberli aussuchen – also Sale-Artikel.
Ihre Mutter erinnert sich zudem daran, wie Olivia im Kindergarten erzählte, andere Kinder hätten Spielzeug im Adventskalender. Sie selbst hatte nur Schoggi – das zu hören, sei für das Mami zuerst «schlimm» gewesen.
Organisationen fordern Politik zum Handeln gegen Armut auf
Einig sind sich die Caritas, die Skos und die Heilsarmee in folgendem Punkt: Es wird zu wenig gegen Kinderarmut in der Schweiz getan.
Die Studie zeigt laut Ingrid Hess: Die aktuellen Sozialhilfeleistungen sind für Kinder teilweise unzureichend, um ihnen einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten.
«Die Skos-Richtlinien sehen für ein Kleinkind dieselben Unterstützungsleistungen vor wie für Jugendliche. Die Studie schlägt deshalb altersabhängige Leistungen für die Sozialhilfe vor.»
Weiter gehen will die Caritas: Sie möchte die Kantone stärker in die Pflicht nehmen, beispielsweise bei Kita-Kosten und Krankenkassenprämien.
Aline Masé ergänzt: «Ein weiteres wirksames Instrument gegen die Armut von Kindern und Jugendlichen sind Familien-Ergänzungsleistungen.» Die Kantone Genf, Waadt, Solothurn und Tessin hätten eine solche Familien-EL bereits eingeführt, der Kanton Fribourg habe sie beschlossen.