Coronavirus: Berner Chefarzt lobt Schweizer Krisen-Umgang

Jochen Tempelmann
Jochen Tempelmann

Bern,

Die Lage um das Coronavirus beruhigt sich, Spitäler dürfen wieder alle OPs in Angriff nehmen. Ein Neuro-Chefarzt erzählt, welche Lehren er aus der Krise zieht.

Inselspital Coronavirus Interview
Das Berner Universitätsspital, das Inselspital, gehört zu den grössten Krankenhäusern der Schweiz. - Keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Ab dem 27. April dürfen Spitäler wieder alle Eingriffe vornehmen.
  • Andreas Raabe ist Chefarzt und Direktor der Universitätsklinik für Neurochirurgie.
  • Als Klinikdirektor führt er seine Abteilung des Inselspitals durch die aktuelle Krise.

Nau.ch: Herr Raabe, wie geht es Ihnen in der aktuellen Situation?

Andreas Raabe: Persönlich bin ich nicht betroffen, als Direktor einer grossen Inselspital-Klinik betrifft mich die gesamte Situation aber natürlich auch. Man ist schon angespannter und auch etwas belastet von den Vorgängen, den Zahlen und von der Ungewissheit. Welche Szenarien werden sich realisieren? Da hat niemand eine Erfahrung.

Inselspital Coronavirus Interview
Andreas Raabe ist Chefarzt der Universitätsklinik für Neurochirurgie. - zVg

Nau.ch: Wie hat sich der Arbeitsalltag im Inselspital verändert, seit der Bundesrat wegen des Coronavirus die ausserordentliche Lage ausgerufen hat?

Andreas Raabe: Alle langfristig planbaren Operationen, wie beispielsweise Hüftgelenkoperationen oder kosmetische Eingriffe, wurden abgesagt. Die Ressourcen dafür wurden umgewidmet, um Kapazitäten für COVID-Patienten zu schaffen. Damit hat sich natürlich eine Umstrukturierung ergeben, aber auch ein Wegfall von bestimmten Operationen und Alltagsabläufen.

Derzeit benötigen wir nur noch rund zwei Drittel der normalen Operationskapazität. So konnten wir mit der Schliessung gewisser Operationssäle potentielle Beatmungsplätze für Patienten mit dem Coronavirus gewinnen.

Inselspital coronavirus Interview
Andreas Raabe präsentiert die Geräte eines neuen Operationssaals (Archivbild). Derzeit werden in der Neurochirurgie wegen des Coronavirus nur zwei Drittel der Operationskapazität benötigt. - Keystone

Interne Meetings und Kontakte zu Patienten nach aussen sind aktuell deutlich aufwändiger. Da läuft jetzt vieles über Anrufe und Video. Wir wollen die Patienten ja keinem unnötigen Risiko aussetzen.

«Mehr Kapazitäten, als wir brauchen»

Nau.ch: Wie sieht es denn bei den Operationen aus, die trotz Coronavirus stattfinden konnten. Hat sich auch da etwas verändert?

Andreas Raabe: Einerseits halten wir die Vorsichtsmassnahmen besonders streng ein. Masken, Desinfektion, Distanz zwischen den Patienten einhalten, das kostet eine Menge Ressourcen.

Andererseits läuft in der Akutmedizin alles wie vorher. Vor dem Coronavirus Notfall hatten wir im Inselspital 30 Beatmungsbetten für Intensivpatienten. Diese sind natürlich immer noch für Herzinfarkte, Hirnblutungen und andere akutmedizinische Eingriffe bereit. Wir haben uns jetzt mit Kapazitäten von insgesamt 90 Beatmungsbetten auf die COVID-Patienten vorbereitet.

Wir haben bei uns im Moment Kapazitäten frei. Die grosse Welle ist in Bern bisher ausgeblieben. Wir müssen jetzt irgendwo den Mittelweg finden. Es scheint so, als hätten wir mehr Kapazitäten, als wir brauchen – was ja auch gut ist.

Nau.ch: Sie sind in Ihrer Abteilung eher indirekt betroffen. Gibt es für die Klinik für Neurochirurgie Wege, die anderen Abteilungen bei der Betreuung der COVID-Patienten zu helfen?

Andreas Raabe: Wir haben unsere Abteilung jetzt in zwei Teams aufgeteilt. Ein Team erledigt aus dem Homeoffice administrative Aufgaben. Wir wechseln uns wöchentlich ab, auch, um eine Ansteckung zu verhindern.

Diejenigen, die zuhause sind, kommen in einen Personalpool: Freies Personal steht dort zur Verfügung, wo es gegebenenfalls gebraucht wird. Die Teststrecken für Patienten mit Symptomen werden beispielsweise von Freiwilligen betreut. Wir sind da gut organisiert, und es gibt eine breite Verbundenheit, dass jeder hilft.

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Krankenpflegerinnen bei der Arbeit in der Klinik für Neurochirurgie des Inselspitals. (Archivbild) - Keystone

Nau.ch: Bei einer Verschlimmerung der Lage hätten die Neurochirurgen also auch bei der COVID-19-Behandlung helfen können.

Andreas Raabe: Das ist korrekt. Wir haben Ärzte abgestellt, um Patienten zu testen. Andere Ärzte wurden für die Beatmung von Intensivpatienten abgestellt. Neurochirurgen haben intensivmedizinische Kenntnisse, sodass wir für die Betreuung der COVID-Patienten bereitstehen können.

Die Kurve des Coronavirus flacht ab – doch für wie lange?

Nau.ch: Von Kurzarbeit, wie man es aus Privatkliniken gehört hat, ist beim Inselspital noch keine Rede?

Andreas Raabe: Als wir im Tessin und in Italien gesehen haben, welche Wellen auf uns zukommen können, haben wir erst einmal umgestellt. Wir haben uns in voller Bereitschaft aufgestellt. Deswegen gab es bisher auch keine Kurzarbeit im Inselspital. Wenn die grosse Welle weiterhin ausbleibt, dann ist es schon so, dass gewisse Personen aus dem Personalpool nicht abgerufen werden.

Nau.ch: Alles nicht Dringliche wird heruntergefahren. Rechnen Sie mit einem Anstieg der Behandlungen, wenn der Normalzustand nach dem Coronavirus wieder einkehrt?

Andreas Raabe: Teilweise rechnen wir damit. Man wird nicht alle Patienten nacharbeiten müssen, aber es wird eine Welle geben. Wir richten uns aber darauf ein, dass wir länger operieren. Die Planung für das Danach ist aber noch sehr von der Entwicklung der Lage abhängig.

Ich rechne aber noch das ganze Jahr mit Anpassungen im Betrieb. Solange es keine Impfung oder Durchseuchung der Bevölkerung gibt, müssen wir das Coronavirus im Auge behalten.

Coronavirus Inselspital Interview
Passanten vor der Krise am Zürcher Paradeplatz. Bis die Schweiz zum Normalzustand zurückkehrt, dürfte es noch lange dauern, so Raabe. - Keystone

Nau.ch: Kehren wir noch einmal zu den Ärzten zurück. Da gab es doch sicherlich Unmut über die Regeln und drastischen OP-Verboten des Bundesrats.

Andreas Raabe: Nein, Unmut gab es bei uns auf keinen Fall. Man weiss, dass der Bundesrat als Entscheidungsträger von Experten beraten wird. Es gibt jetzt zu viele Meinungen. Man muss sich auf Experten verlassen, aber eben nicht nur auf Virologen und Epidemiologien, sondern auf Experten aus allen Gebieten.

Und da haben wir Vertrauen. Wir machen uns bereit für die Lockerung, damit wir wieder zu einem gewissen Alltag zurückfinden können. Das wird nicht der «normale» Alltag sein, aber ein Alltag, der wieder etwas näher an der Normalität ist.

Die Lehren aus der Corona-Krisen

Nau.ch: Aus Sicht des Inselspitals wäre das für die Zukunft also eher ein Bereitschafts- als ein Ausnahmezustand?

Andreas Raabe: Ja, also schon ein etwas reduzierter Fokusbetrieb. Bereitschaft insofern, als man die aktuellen Organisationsmodelle und eine gewisse Infrastruktur beibehält.

Der aktuelle Zustand hat am Anfang natürlich einen gewissen Organisationsaufwand bedeutet. Das hat schon drei bis vier Wochen gedauert, ehe wir uns eingerichtet hatten. Jetzt können wir aber innerhalb einer Woche umschalten, wir könnten also langsam wieder hochfahren.

Nau.ch: Das heisst also, das Inselspital hat aus der Krise des Coronavirus gelernt.

Andreas Raabe: Ja. Wir haben Gremien gegründet, wir haben gelernt, uns zu organisieren. Wir hatten keinen Plan für eine Epidemie dieses Ausmasses. Die asiatischen Länder haben das bereits in der Sars-Krise 2002/2003 gelernt.

Wir haben auch gelernt, dass wir uns nicht bei kritischen Gütern nicht zu stark vom Ausland abhängig machen dürfen. Bestimmte kritische Verbrauchsgüter wie Masken oder Desinfektionsmittel sollten im Inland produziert werden. Dann sind wir in einer Krise nicht abhängig vom Ausland. Früher gab es Reserven für den Kriegsfall, heute brauchen wir Reserven für den Kampf gegen Epidemien.

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Beatmungsgeräte der Schweizer Armee warten im Kantonsspital Baselland auf ihren Einsatz: Die Schweiz ist auf steigende Fallzahlen gut vorbereitet. - Keystone

Nau.ch: Dann sind Sie zufrieden, wie die Schweiz mit der Krise umgeht?

Andreas Raabe: Die Umstellung auf den Krisenbetrieb wegen des Coronavirus hat hierzulande sehr gut funktioniert. Wie viele Menschen in einer solchen Krise sterben, ist auch ein Abbild des Gesundheitswesens. Man erkennt den Kern einer Gemeinschaft auch daran, wie sehr sie sich um die Bedürftigen kümmert.

Mit den Mortalitätsraten sticht die Schweiz im Vergleich zu Ländern wie Italien, Spanien, Grossbritannien oder den USA heraus. Die Qualität des Gesundheitssystems hierzulande ist gut, ähnlich wie in Deutschland oder den nordischen Ländern. Die Schweiz tut viel für ihre bedürftigen Kranken.

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