Coronavirus: Was wir aus dem Tamiflu-Debakel lernen können
Das Wichtigste in Kürze
- Politiker fordern schnelle Lösungen in der Corona-Krise und leiten übereilte Schritte ein.
- Die Medikamentenforschung benötigt jedoch Zeit – und gut belegte Wirksamkeitsstudien.
- Am Beispiel Tamiflu könnten wir lernen, wie man es nicht machen sollte.
Das Coronavirus stellt eine globale Gefahr dar. Die Politik fordert schnelle Lösungen – und lässt sich zu übereilten Schritten verleiten: Die US-Regierung hat bereits Millionen Dosen des Malaria-Medikaments Hydroxychloroquin gebunkert. Doch die Wissenschaft zweifelt schon jetzt dessen Wirkung gegen das Coronavirus an.
Dabei gibt es Präzedenzfälle: Schon 2005 sah sich die Welt mit der Bedrohung durch ein neuartiges Virus konfrontiert. Damals deckte man sich voreilig mit Tamiflu ein. Neuere Studien erheben jedoch erhebliche Zweifel an dessen Wirksamkeit. Was können wir aus der Vergangenheit lernen, um in Zeiten des Coronavirus nicht die gleichen Fehler zu machen?
Sorge um mögliche Pandemie
Ärzte prognostizierten schon seit längerem eine Viren-Pandemie wie die aktuelle. Viren wie das Coronavirus können sich sehr schnell verändern und durch Kreuzung mit anderen Viren im Wirt ihre Eigenschaften ändern.
Als 2005 die Vogelgrippe grassierte, sah man sich mit einem derartigen neuen Erreger konfrontiert. Wie heute war bald klar, dass die Entwicklung eines Impfstoffs viele Monate dauern könnte. Schnell mahnte die WHO: Man solle vorsorglich Vorräte antiviraler Medikamente anlegen.
Doch welches Medikament eignet sich für die Bekämpfung eines neuartigen Virus? Damals wie heute wurde die Heilmittelsuche intensiviert. Klinische Studien wurden angeregt, Medikamente im Schnelldurchlauf auf ihre Wirksamkeit getestet.
Was heute Remdesivir und Plaquenil sind, war damals Tamiflu. Das Medikament des Schweizer Pharmakonzerns Roche war ein aussichtsreicher Kandidat für die Behandlung.
Tamiflu: Hoffnungsträger der Vogelgrippe-Pandemie
Der Tamiflu-Wirkstoff Oseltamivir wurde in den 90er-Jahren entdeckt und erforscht. 1996 hatten die klinischen Studien für eine Zulassung begonnen. 1999 wurde das Medikament in zuerst in der Schweiz zugelassen. Die Europäische Union zweifelte zu dem Zeitpunkt noch an den Roche-Daten zur Wirksamkeit des Medikaments.
Bis 2005 wurde das Medikament jedoch nur in kleinen Mengen eingesetzt. Die Vogelgrippe verhalf Tamiflu zum Durchbruch. Als möglicher Kandidat zur Behandlung wurde das Medikament in den Medien bekannt. Die WHO empfahl den Staaten, einen Vorrat für 25 Prozent der Bevölkerung anzulegen.
Tamiflu wurde zum Verkaufsschlager. Roche verzeichnete 2006 den bis dahin grössten Gewinn der 110-jährigen Firmengeschichte. Tamiflu hatte mit einem Umsatz von 2,6 Milliarden Franken einen grossen Anteil an den Rekordergebnissen.
Roche-Studienergebnisse im Nachhinein widerlegt
Anfang der 2010er-Jahre nahm sich die Cochrane Collaboration, ein unabhängiges Netzwerk verschiedener Medizinwissenschaftler, dem Wirkstoff an. Die klinischen Studien von Roche wurden erneut unter die Lupe genommen und auf ihre empirische Relevanz geprüft.
Die unabhängigen Forscher deckten schwere Versäumnisse in den Studien von Roche auf. Das Unternehmen hatte nur die Studien selektiert, welche Tamiflu gute Wirksamkeit attestierten. Andere Studien wurden vom Pharmakonzern unter Verschluss gehalten.
Das Ergebnis der unabhängigen Forscher: Tamiflu konnte lediglich die Dauer von Grippeerkrankungen um 21 Stunden senken. Die Patienten mussten genauso oft ins Spital wie ohne das Medikament. Für die von Roche belegte Verringerung der Ansteckungsgefahr konnten keine Nachweise gefunden werden.
Schlimmer noch: Der Wirkstoff, welcher auch präventiv eingenommen wurde, erzeugte schwere Nebenwirkungen. Bei Jugendlichen wurden negative psychische und neurologische Nebeneffekte festgestellt, die von Roche verschwiegen worden waren.
Roche hat kein Interesse an kritischen Studien
2017 stufte die WHO Tamiflu für die Grippebehandlung von «essenziell» auf «ergänzend» herunter. Die grossen Vorräte, die viele Länder, darunter die Schweiz, angelegt hatten, sind aufgrund des abgelaufenen Verfallsdatums mittlerweile vernichtet.
Roche hatte selbstverständlich nie grosses Interesse an negativen Ergebnissen. Dennoch liegt die Verantwortung für die Medikamenten-Studien in den Händen der Pharmakonzerne.
«Bei der Auftragsforschung wird nur das veröffentlicht, was der Auftraggeber will», bestätigt Barbara Bialucha-Nebel, Oberärztin an der Kirchberg-Klinik in Deutschland. Schon lange besteht die Forderung, dass sich diese Praxis ändere. Die Pharmakonzerne gehen darauf jedoch nicht ein.
Coronavirus: So bereiten wir uns am besten vor
«Wir wissen im Voraus nie, welches Virus die nächste Epidemie auslösen wird», gibt Bialucha-Nebel zu bedenken. Sich präventiv mit Medikamenten einzudecken, ergebe daher wenig Sinn. Man müsse bei einem Ausbruch der Wissenschaft genügend Zeit für ausführliche Studien verschaffen – überstürzte Medikamentenkäufe helfen niemandem.
Hingegen sei es viel wichtiger, dass die einzelnen Länder die Versorgung mit medizinischen Materialien sicherstellen, um einer Pandemie zu begegnen. Der weltweite Bedarf an Schutzmasken, Desinfektionsmittel und anderen medizinischen Massengütern ist seit dem Coronavirus-Ausbruch drastisch gestiegen. Lokale Engpässe müssen verhindert werden.
«Die aktuelle Pandemie zeigt, dass wir uns in einer solchen Situation nicht auf die internationale Zusammenarbeit verlassen können,» so Bialucha-Nebel. «Um den steigenden Anforderungen schnell gerecht zu werden, sollten die lokalen Märkte wieder gestärkt werden.»