Die zeichnende Anwältin der «Unsichtbaren und Zornigen» in Russland
Victoria Lomasko zeichnet Reportagen über das Russland von heute, wo die «gelenkte Demokratie» die Bürgerrechte mehr und mehr einschränkt. Das Cartoonmuseum Basel bietet in einer Retrospektive Einblicke in ihr politisch brisantes Schaffen.
«Die Unsichtbaren und die Zornigen» nennt die 1978 geborene russische Zeichnerin eine ihrer Werkgruppen. Zornig sind viele in Russland, auch wenn es bei weitem nicht alle klar ausdrücken. Andere dafür aber sehr, wie etwa die Protest-Punkerinnen von Pussy Riot auf der einen oder die fundamentalistischen Anhänger der orthodoxen Kirche auf der anderen Seite.
Lomasko stellt diese zornig protestierenden Bewegungen in einem Werk einander gegenüber. Dabei wird klar, auf welcher Seite ihre Sympathien liegen: In einer aufgebrachten Buntheit präsentiert sie die Pussy-Riot-Bewegung, während die Abbildung der reaktionären Anhänger der Kirche von einem düsteren Schwarz mit gelben Einsprengseln geprägt ist.
Lomasko bezeichnet sich selber als «die letzte sowjetische Künstlerin». Und sie meint dies nicht ganz so ironisch, wie man dies angesichts ihres politisch oppositionellen Schaffens im ersten Moment verstehen könnte. Bewusst nimmt sie Grundgedanken der sowjetischen oder sozialistischen Kunst auf. Sie will zugängliche sowie plakativ-politische und verständliche Werke schaffen.
Stilistisch präsentiert sich die Künstlerin mit verschiedenen Handschriften. Die Werkserien mit Einblicken in die Homosexuellen-Szene und in das Leben von Sexarbeiterinnen offenbart Anklänge an die expressionistischen Stadtszenerien von Ernst Ludwig Kirchner. Bei den späteren Werken dringt eine gleichermassen spontane wie exakt satte Ligne claire durch.
So etwa bei ihren beiden Gerichtsreportagen, die unter dem Titel «Verbotene Kunst» zusammengefasst sind. Bei der einen Reportagen zeichnete sie den Schauprozess gegen die Veranstalter einer Ausstellung von 2006 auf, die von der orthodoxen Gemeinschaft gestürmt worden ist. Bei der anderen geht es um den viel beachteten Prozess gegen die Aktivistinnen von Pussy Riot im Jahr 2012.
Eines der Highlights der Ausstellung ist ein Wandgemälde, das Lomasko als Artist in Residence im Museum geschaffen hat. Ausgehend von einem Apfelbaum zeichnet oder malt sie einen Bogen der russischen Gesellschaftsgeschichte von den Traditionen der Alten bis zu den ungewissen Zukunftsaussichten der jungen Menschen. «Lenin ist lebendiger als alle Lebenden», meint sie sarkastisch dazu.
All diese Menschen hat Lomasko auf vielen Reisen besucht: die vielen Russinnen und Russen, die am Rand der Gesellschaft angesiedelt sind. Dazu gehören unter anderem Jugendliche in einem Arbeitslager, denen sie Zeichenworkshops gab, genau so wie alte Frauen, denen sie in der gottverlassenen Provinz begegnet ist.
Lomasko war hier einem interessierten Publikum bislang vor allem durch ihre international verbreiteten Bücher bekannt. Die Ausstellung «Victoria Lomasko. Other Russias» ist die erste Retrospektive des eindrücklichen Werks der Künstlerin in der Schweiz.
Sie dauert bis zum 19. November 2019. Es lohnt sich, diese Künstlerin und das Leben, das sie beschreibt beziehungsweise nachzeichnet, näher kennen zu lernen.