Stadt Zürich

«Er liebte das Leben ohne Selbstzensur»

Keystone-SDA
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Zürich,

Er war ein Meisterregisseur und ein besessener Zeichner: Im Kunsthaus Zürich ist das zeichnerische Werk von Federico Fellini zu sehen, ergänzt mit Raritäten aus dem Universum des italienischen Filmemachers.

Frauen, die zu ihrem Körper stehen, keine konventionellen Schönheiten: Laut Cathérine Hug, Kuratorin der Ausstellung «Federico Fellini – Von der Zeichnung zum Film» im Kunsthaus Zürich, hatte der italienische Filmemacher ein sehr modernes Frauenbild.
Frauen, die zu ihrem Körper stehen, keine konventionellen Schönheiten: Laut Cathérine Hug, Kuratorin der Ausstellung «Federico Fellini – Von der Zeichnung zum Film» im Kunsthaus Zürich, hatte der italienische Filmemacher ein sehr modernes Frauenbild. - sda - 2022, ProLitteris, Zurich

Wenn Federico Fellini sich ans Schreiben eines Drehbuchs machte, setzte er zeitgleich oder manchmal auch davor den Stift zum Zeichnen an. Der italienische Regisseur von Filmen wie «La Dolce Vita» oder «81⁄2» zeichnete täglich, obsessiv. Er selbst nannte es «eine Manie».

Er entwarf Charaktere, Figuren, Ausstattungsdetails, Kostüme, kleine Szenen. «Das ist meine Art, mich an den Film, den ich gerade mache, heranzupirschen», sagte er in einem Interview mit einem Filmkritiker, der während des Gesprächs 129 Kugelschreiber und 21 Bleistifte auf dem Schreibtisch des Filmemachers zählte.

Im Kunsthaus Zürich sind nun weit über 200 Zeichnungen in der Ausstellung «Federico Fellini – Von der Zeichnung zum Film» zu sehen. Es ist die zweite Ausstellung im Kunsthaus, die sich dem zeichnerischen Werk Fellinis widmet. Bereits 1984 kuratierte Toni Stooss, noch zu Lebzeiten des 1993 gestorbenen Regisseurs, eine Ausstellung.

Es sind knallige, farbenfrohe, teils satirische und grelle Skizzen, gezeichnet mit Filzstift, Kugelschreiber und Fineliner: Ein Scheich, der in eine Ecke pinkelt, eine Diva mit Sonnenbrille, Frauen mit prallen Hintern auf Fahrrädern, der Nashornwärter aus «E la nave va», der selbst wie ein Dickhäuter aussieht, und ein Mann im Profil mit hoher Stirn und grosser Nase, der nur unschwer als Casanova aus dem gleichnamigen Film zu erkennen ist. «Die starken Charaktere und das Unperfekte und Impulsive dieser Zeichnungen haben etwas Erfrischendes in unserer genormten Welt, in der sich alle für das perfekte Selfie inszenieren», sagt die Kuratorin der Kunsthaus-Ausstellung Cathérine Hug.

Dass diese Zeichnungen überhaupt erhalten sind, die Fellini selbst grösstenteils weggeschmissen hat, ist vor allem einer Person zu verdanken: dem verstorbenen Zürcher Verleger und Galeristen Daniel Keel. Er veröffentlichte im Diogenes Verlag sämtliche Drehbücher des Regisseurs und 1976 erstmals einen Bildband mit Zeichnungen. In seiner Galerie war die erste Ausstellung mit Skizzen des Filmemachers zu sehen.

Fellini selbst war weniger begeistert von seinen Zeichnungen: «Was für ein Horror, diese Sachen an der Wand hängen zu sehen, angestrahlt von Spots, wie kostbare Schmetterlinge», war seine Reaktion auf die Ausstellung in der Galerie Keel. Für ihn waren die Zeichnungen Mittel zum Zweck, ein Baustein im kreativen Prozess.

Auch für Cathérine Hug steht das Gesamtkunstwerk Fellini im Zentrum. «Es geht nicht darum, Fellini als Zeichnungskünstler neu zu definieren. Aber ohne seine Zeichnungen gäbe es keinen seiner Filme. Wenn man sein Schaffen verstehen will, kommt man nicht um die Skizzen herum», so die Kuratorin.

Fellini hat ununterbrochen gezeichnet und fast täglich nach dem Aufwachen seine Träume zeichnerisch festgehalten. «Die Menge an Zeichnungen als Koprodukt eines Films, das ist bei Fellini einzigartig», sagt Hug. Das Zeichnen stand in seiner Berufsleben vor dem Filmemachen: Fellini war als junger Mann Karikaturist für diverse Zeitschriften.

«Federico Fellini – Von der Zeichnung zum Film» ist in Kooperation mit dem Museum Folkwang in Essen entstanden, wo die Ausstellung im Winter 2021/22 zu sehen war. In der Zürcher Ausstellung werden die Zeichnungen mit Notizen des Regisseurs, Requisiten und Kostümen sowie weiteren wertvollen Dokumenten ergänzt. Zu sehen sind etwa Raritäten wie Danilo Donatis Klerikerkostüme aus «Roma» oder eine Original-Filmklappe der Dreharbeiten von «Casanova.

Fündig wurde die Kuratorin auch in der Schweiz: in der 2001 eröffneten Fondation Fellini pour le cinéma in Sion. «Dort hat es richtige Schätze. Etwa eine Traumzeichnung, seltene Fotos oder das kunstvoll inszenierte Selbstporträt eines anonymen Bewerbers für eine Filmrolle.» In einem Begleitbrief schrieb dieser: «Dear Mr. Fellini, can you use me in your next film? Best wishes, OT». Manche fertigten rührende kleine Kunstwerke an, um den Regisseur zu beeindrucken. Zum Beispiel die Frau, die ein Foto von sich und Fellini zu einer Collage in einem roten Herz anfertigte. «Er hatte Archetypen, bestimmte Charaktere im Kopf. Bei der Besetzung der richtigen Person an den Castings halfen ihm auch seine Zeichnungen», sagt Cathérine Hug.

Viele der Exponate aus der Sammlung in Sion stammen von Fellinis langjährigem Assistenten Gérald Morin aus Lausanne. In einem Gespräch, das im Ausstellungskatalog nachzulesen ist, erinnert er sich an den grossen Filmemacher: «Er liebte Leute, die echte Lebenserfahrung hatten. Models hingegen und die ganze Künstlichkeit, die sie verkörpern, mochte er überhaupt nicht (...). Was er liebte, war das Leben in vollen Zügen ohne Selbstzensur. Er bewunderte Frauen, die ihr Leben in Fülle leben.»

Dass genau dieses Frauenbild heute zu Stirnrunzeln führen könnte, ist sich Cathérine Hug bewusst. Fellini habe sich mit dieser Freizügigkeit und Darstellung von Erotik auch aus seiner katholischen Zwangsjacke befreit, sagt sie. «Fellini war ein freier Geist und grosser Kritiker von Populismus. Er hatte vielleicht eine paternalistische Seite, aber auch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.» Den Sexismus-Vorwurf lässt Hug nicht gelten.

Trotzdem hat sie ein Panel zu Fellinis Frauen- und Männerbildern organisiert. «Klar, wenn man nicht genau hinschaut, sieht man nur die grossen Brüste. Aber Fellinis Frauen geben den Ton an, es sind oft Geschäftsfrauen, die sich in einer konservativ geprägten Struktur behaupten. Frauen, die zu ihrem Körper stehen, keine konventionellen Schönheiten. Und er richtete den Blick immer wieder auch auf Menschen, die sich zwischen den Geschlechtern bewegen. Das ist unglaublich modern.»

*Dieser Text von Sarah Sartorius, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert

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