Ex-Zeuge-Jehovas sieht die Zeit heute wie ein Alptraum
Einem ehemaligen Zeugen Jehovas kommt die Zeit in der Sekte heute wie ein Alptraum vor. Micha Barth war 40 Jahre lang bei den Zeugen.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Zeugen Jehovas sind die grösste Sekte der Schweiz.
- Ein Ex-Mitglied erzählt von seiner Zeit bei den Zeugen.
Die Zeugen Jehovas sind die grösste Sekte der Schweiz – laut eigenen Angaben umfasst sie landesweit insgesamt 19'354 Personen.
Ein ehemaliger Zeuge Jehovas erzählt von seiner Zeit in der Sekte. «Wie ein schlechter Traum» komme ihm diese Zeit bisweilen vor, sagt Micha Barth der «Luzerner Zeitung». Er war 40 Jahre lang bei den Zeugen.
Sektenmitglied seit Geburt
1977 kommt er in Bayern in der Nähe von München (D) auf die Welt. Seine Grosseltern, Vater und Mutter sind alle bei den Zeugen – der kleine Micha automatisch auch.
Er muss dreimal wöchentlich an Versammlungen teilnehmen und stundenlang von Tür zu Tür ziehen, lächeln, erzählen und bekehren.
«Jeder Bereich des Lebens ist streng reglementiert»
Der Alltag der Sektenmitglieder wird von Regeln und Vorschriften diktiert. «Jeder Bereich des Lebens ist streng reglementiert», sagt Barth. Die Zeugen dürfen kein Fremdblut annehmen, keinen Wehrdienst leisten und müssen Nichtgläubige meiden.
Es geht noch weiter: Sex vor der Ehe und Masturbation ist verboten. Als Mann darf Micha keine engen Hosen anziehen. Das mache schwul, heisst es.
Getraute sich nicht, Händchen zu halten
Barth rebelliert. Er spielt Tennis sowie Fussball und hört Heavy Metal. Seine erste Freundin hat er mit 17 Jahren, getraut sich aber nicht ihre Hand zu halten. Die zweite Freundin heiratet er – damals ist er 22 und sie 19.
Nur wenige Jahre später lassen sich die beiden scheiden. «Viele Zeugen flüchten sich in die Ehe, auch weil sie so endlich ihre Sexualität ausleben können», sagt er rückblickend.
Ihn plagen ständige Schuldgefühle. «Die vielen Regeln, die starke Kontrolle. Das erzeugt einen enormen Druck – und hat System», ist Barth heute überzeugt.
Mehrmals spitalreif geprügelt
Als Micha zwei Jahre alt ist, verunglückt sein Vater. Fortan ist er querschnittsgelähmt und schwerstbehindert. An Stelle von ihm wird Barth von den Zeugen erzogen. Immer wieder verprügeln sie ihn – einige Male so schlimm, dass er im Spital landet.
Seiner Mutter zuliebe, passt er sich so gut wie möglich an. Wer bei den Zeugen austritt, wird von der Familie geächtet und darf keinen Kontakt mehr zu ihnen haben.
Über die Jahre wird er aber immer misstrauischer. Bei Internet-Recherchen entdeckt er, dass Fälle von Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas häufig sind. Er ist sich sicher: «Mit der Organisation will ich nichts mehr zu tun haben.»
«Für die Zeugen bin ich ein Diener Satans»
Entschlossen zieht der IT-Spezialist in den Kanton Zug. Seine zweite Frau ist eine einstige Hardcore-Zeugin. «Ein enormer Belastungstest für die Beziehung», den das Paar aber besteht.
Seit 2017 bleiben sie den Versammlungen fern, im vergangenen Jahr dann traten sie aus und zogen nach Luzern. Seine Erfahrung nutzt er, um anderen Zeugen bei ihrem Ausstieg zu helfen. «Für die Zeugen bin ich nun das Allerschlimmste, ein Diener Satans», stellt er fest.