Gegen das System: Darum gebären Schwangere ihr Kind lieber allein

Aline Schmassmann
Aline Schmassmann

Bern,

Der Schweizer Hebammenverband bemerkt zunehmende Angebote für Alleingeburten. Bei einer solchen Geburt verzichten Frauen bewusst auf medizinische Hilfe.

Schwangere Frau
Manche Schwangere haben ihr Vertrauen in das Gesundheitssystem derart verloren, dass sie lieber sich selbst vertrauen: Sie gebären bewusst allein. (Symbolbild) - pixabay

Das Wichtigste in Kürze

  • Bei einer Alleingeburt gebären Frauen bewusst ohne jegliche Fachpersonen.
  • Auch in der Schweiz gibt es Schwangere, die sich gegen das Gesundheitssystem entscheiden.
  • Der Schweizerische Hebammenverband beobachtet diese Entwicklung mit «grosser Sorge».

Sue Strack befindet sich gerade hochschwanger mit Mann und Sohn in Guatemala, als am Nachmittag die Wehen einsetzen. Doch die Ostschweizerin bleibt ruhig. «Darauf habe ich mich lange gefreut, das wird grossartig», denkt sie sich.

Die Geburt setzt keineswegs unerwartet ein. Sue hat sich auf diesen Moment vorbereitet. Sie befindet sich ganz bewusst in einer Wohnung und nicht im Spital.

Sue hat bewusst entschieden, dieses Kind ohne Hebamme auf die Welt zu bringen. «Es ist kaum möglich, eine Unterstützung zu finden, welche keine persönlichen Ängste zum Thema Geburt mit sich bringt», so Sue gegenüber Nau.ch. Und: «Angst kann ich während einer Geburt am wenigsten in meinem Raum gebrauchen, deswegen bin ich lieber auf mich allein gestellt.»

Gegen 17 Uhr geht Sue in die Sauna und entspannt sich. Sie muss nun ganz bei sich sein. Sues Ehemann und ihr dreijähriger Sohn sind zwar in der Wohnung, lassen die gebärende Mama aber für sich. Die beiden bleiben noch lange wach.

Mitternacht. Sue gebärt auf dem Sofa. Sie befindet sich «im Endspurt der Geburt», deswegen kann sie sich kaum noch bewegen. Nun kommt Sues Mann aus dem Schlafzimmer: «Kann ich dir etwas helfen?»

Sue nimmt das Angebot dankend an: «Ein Schluck Wasser» und «Vielleicht noch ein zweites Kissen». Ganz spontan und kurz vor der Ankunft seines zweiten Kindes ist er also doch dabei. Sues Mann darf zusehen, wie seine Tochter Noya ganz natürlich, entspannt und ungestört zur Welt kommt.

Es sind nur sie drei, auf einem Sofa in ihrer Mietwohnung in Guatemala. «Das ist das grösste Geschenk», erinnert sich die 31-Jährige heute.

Teils mit Angehörigen, teils ganz allein

Diese Art zu gebären nennt sich «Alleingeburt» oder auch «Free Birth». Bei so einer Geburt entscheidet sich die Schwangere bewusst, ohne geburtshilfliche medizinische Betreuung zu gebären. Bei manchen Alleingeburten sind noch Angehörige dabei, bei manchen ist die Frau lieber komplett allein.

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Josy Peukert hat ihre Alleingeburt mit der Öffentlichkeit geteilt. - Instagram / @raggapunzel

Bereits 2022 gingen veröffentlichte Aufnahmen einer Alleingeburt viral: Die deutsche Auswanderin Josy Peukert gebar ihr viertes Kind bewusst allein in einer Meeresbrandung in Nicaragua. Die Geburt wurde von Peukerts Ehepartner aufgezeichnet.

Unrealistische Vorstellungen

Susanne Schmid ist Hebamme und führt ihre eigene Hebammenpraxis in Bern. «Natürlich kann es solche Geburten geben, wo alles passt», meint Schmid. Das habe sie schon x-mal erlebt. Aber das sei nun mal nicht immer der Fall.

Selbstverständlich seien die Erfahrungen dieser Frauen wahr und legitim. Doch könne man sie nicht einfach grundsätzlich auf alle übertragen.

Schmid denkt nicht, dass sich die Frauen selbst überschätzen würden. «Ich denke aber, dass ihre Vorstellung von einer Geburt nicht ganz realistisch ist. Dass ihnen die möglichen Gefahren nicht vollends bewusst sind.»

Hebamme kann lebensrettend sein

Von möglichen Gefahren berichtet auch Karin Lietha-Kapp, Hebamme und Geschäftsleiterin des Geburtshauses Zürcher Oberland: «Gebären ist prinzipiell ein gesunder Vorgang, aber eben halt nicht immer.»

Sie warnt: Kind und Mutter könnten sehr wohl in bedrohliche Situationen geraten. Beispielsweise durch eine verstärkte Blutung bei der Mutter oder durch Atemprobleme beim Kind. «In solchen Fällen kann es lebensrettend sein, wenn eine Hebamme die Geburt begleitet und medizinische Massnahmen einleiten kann.»

Findest du es fahrlässig, nicht im Spital zu gebären?

Auch Sue, die sich für eine Alleingeburt entschied, stimmt zu. Es gebe Situationen, bei denen eine Überführung in ein Spital angezeigt sei: «Wenn ich es während der Geburt notwendig finde, würde ich auch ins Spital gehen.» Sue betont, dass sie grundsätzlich sehr dankbar für unser Gesundheitssystem sei.

Aber: «Für mich hat eine Geburt grundsätzlich nichts mit einem Spital zu tun. Eine Geburt ist keine Krankheit.» Frauen seien dafür geschaffen, Kinder auf die Welt zu bringen. Im Spital würde tendenziell viel zu früh in den natürlichen Prozess eingegriffen.

Sues persönliche Meinung: «Es gibt viel weniger Risiken, wenn man von Anfang sehr natürlich unterwegs ist und das Natürliche auch nicht unterbricht.»

Geburtshilfe ist die Natur des Menschen

Über «die Natur» des Menschen weiss Anthropologe Martin Häusler vom Institut für Evolutionsmedizin der Universität Zürich bestens Bescheid. Die Geburtshilfe sei ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Soll heissen: Dieses Merkmal unterscheidet den Menschen vom Affen. Die Primaten würden nämlich allein gebären.

Anders der Mensch: Anwesenheit und aktive Unterstützung durch Geburtshelfer sei praktisch immer der Fall. Seit Urzeiten und überall auf der Welt – von der westlichen Kultur bis zu ursprünglich lebenden Völkern. Solitäre Geburten sehe man nur in absoluten Ausnahmefällen. Häusler: «Die ‹begleitete Geburt› muss deshalb als ‹natürlich› für den Menschen gelten.»

«Ich fühlte mich missbraucht»

Das sieht Sue Strack anders. «Eine Frau muss sich bei der Geburt entspannen können, damit sie spürt, was sie und ihr Kind brauchen. Ich bezweifle, dass dies in der grellen und sterilen Spitalumgebung möglich ist.»

Doch auch den Raum voller Fremder erachtet Sue als problematisch. Diese würden der Frau oft vermitteln, sie wüssten besser, was die Frau und ihr ungeborenes Kind zum gegebenen Zeitpunkt braucht. Das Personal würde leider zu oft einfach etwas entscheiden – ohne das Einverständnis oder die ausreichende Aufklärung der Frau.

Sue hatte selbst eine derartige Erfahrung bei der Geburt ihres ersten Kindes: «Ich wurde zu einem Not-Kaiserschnitt gezwungen. Sie haben mir nicht zugehört. Ich fühlte mich missbraucht.»

Jede vierte Gebärende erlebt Zwang

Solche Übergriffe sind ein bekanntes Problem. Laut einer Umfrage der Berner Fachhochschule erlebt jede vierte Frau informellen Zwang unter der Geburt. Informeller Zwang bezeichnet jede Massnahme im medizinischen Kontext, die gegen den selbstbestimmten Willen von Patientinnen durchgeführt wird.

Denkst du, Schwangere werden in der Regel ausreichend über Untersuchungen und Eingriffe aufgeklärt?

Geburtshaus-Geschäftsleiterin Lietha-Kapp kann die Sorgen der Schwangeren nachvollziehen: «Wir respektieren die Gedanken und Gefühle einer Mutter, die dazu führen, dass sie sich für eine Alleingeburt entscheiden will.» Doch kenne sie auch die gesundheitlichen Risiken und wisse, wie schwerwiegend diese sein können.

Das Geburtshaus Zürcher Oberland versuche daher stets, das gegenseitige Vertrauen derart aufzubauen, dass ein gemeinsamer Weg gefunden werde. «Ein gemeinsamer Weg, der eine Alleingeburt hoffentlich unnötig macht.»

Alleingeburten dürfen nicht die Lösung sein

Der Schweizerische Hebammenverband nimmt wie folgt Stellung: Aufgrund des aktuellen Fachkräftemangels fehle den Hebammen die Zeit für wichtige Betreuungsarbeit. Dabei sei es essenziell wichtig, dass eine Hebamme eine 1:1-Betreuung anbieten könne und genügend Zeit für eine Patientin habe. Genügend Betreuungszeit und Fachpersonal sei die beste Prävention gegen traumatische Geburtserlebnisse.

Der Verband bemerke mit «grosser Sorge», dass immer mehr «Doulas» – nicht medizinische Geburtshelferinnen – Unterstützungen für Alleingeburten anbieten würden. Die Politik müsse alles daransetzen, dass genügend Hebammen ausgebildet würden. Auch die Arbeitsbedingungen in den Spitälern müssten so verbessert werden, dass mehr Hebammen im Beruf bleiben.

Und auch hier warnt man: Alleingeburten seien «in keiner Art und Weise eine ernst zu nehmende Alternative zu einer durch eine Fachperson begleitete Geburt». Der Hebammenverband stellt klar: Alleingeburten dürften nicht die Lösung des Fachkräftemangels sein.

«So ein Geburtserlebnis zeigt: Ich kann so einiges.»

«Die Alleingeburt mit meinem zweiten Kind hat mich verändert, ich stehe anders da als vorher», erzählt Sue. Die Geburt habe ihr viel Selbstvertrauen geschenkt: «So ein Geburtserlebnis zeigt: Ich kann so einiges.»

Natürlich müsse jede Frau für sich persönlich entscheiden, wie sie gebären wolle. Und doch findet Sue: «Meine Geburt war so ein unglaublich schönes Erlebnis, das ich jeder Frau wünsche.»

Kommentare

User #5246 (nicht angemeldet)

Ein Kind in aller Ruhe allein zu gebären ist die verletzungsfreieste Art des Kinderkriegens. Während man schulmedizinisch von 8 bis 10 Frauen spricht, denen die Vulva oder der Damm reißt, ist es bei Alleingeburten umgekehrt: hier bleiben 8 von 10 Frauen heil. Das Geheimnis dahinter ist die intuitiv richtig gewählte Gebärposition und das eigene Tempo. Beides kann man nur wählen, wenn man nicht unter Dauerbeobachtung und Leitlinien-Druck von Hebamme oder Spital steht. Wer als Frau seelisch und körperlich gesund in die Mutterschaft starten will, kann sich in der großen Studie "Die Wahrheit über Alleingeburten" über diesen Gebärweg informieren.

User #7864 (nicht angemeldet)

Eine Freundin hatte eine Hausgeburt mit Hebamme gab Komplikationen und sie mussten mit Krankenwagen ins Spital, Kind zu wenig Sauerstoff und deshalb behindert. Wenn alles gut geht gehts auch zuhause, wenn nicht ist Spital definitiv sicherer.

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