«Grüzi» nervt uns: Schweizer haben «Deutschen-Komplex»
Das lieb gemeinte deutsche «Grüzi» kommt in der Schweiz nicht immer gut an. Wir haben einen «Deutschenkomplex», beobachtet ein Sprachforscher.

Das Wichtigste in Kürze
- Nicht immer stossen Deutsche auf Gegenliebe, wenn sie sich in Schweizer Dialekt versuchen.
- Ein Grund: Laut einem Experten haben viele Schweizer einen «Deutschenkomplex».
- Für Schweizer könne sich das «Grüzi» nicht authentisch und wie ein Eindringen anfühlen.
Die meisten Menschen, die in die Schweiz einwandern, stammen aus Deutschland. Und das mit Abstand: Laut dem Bundesamt für Statistik kamen in den letzten rund 20 Jahren 552'000 Deutsche in die Schweiz.
Zum Vergleich: Aus Italien, woher die zweitmeisten Einwanderer stammen, waren es in diesem Zeitraum mit 287'000 deutlich weniger.
Ein Vorteil, den die Expats aus Deutschland haben: Sie sprechen bereits die in der Schweiz meistgesprochene Sprache. Zumindest fast.
So ähnlich wie die Aussprache ist, kann es doch nicht schwer sein, sie zu übernehmen, mögen sich einige denken. Und begrüssen den Zürcher mit «Grüzi» und stimmen der Bernerin mit einem «gau?» – statt einem hochdeutschen «gell» – zu.
«Werde jedes Mal komisch angeschaut»
Doch damit kommen sie nicht immer gut an.
Das zeigt das Beispiel einer Person, die auf der Plattform Reddit klagt: «Ich bin gerade in der Schweiz und werde jedes Mal komisch angeschaut, wenn ich Schweizerdeutsch spreche», schreibt sie.
Eigentlich spreche sie Hochdeutsch, wolle aber Schweizerdeutsch lernen. «Wenn ich einfach nur Grüezi oder merci oder adé sage, bekomme ich nur ein unbeholfenes Lächeln. Als hätte ich gerade das Unangenehmste getan, was ein Ausländer tun kann.»
Sie fragt sich: «Sollte ich einfach beim Hochdeutsch bleiben?»
Dialekt bringt «mehr Vertrauen»
Auch Ines Biedenkapp (34) kennt das Problem. Sie kommt aus der Region Jestetten, der deutschen Ecke bei Schaffhausen. Die freie Nau.ch-Mitarbeiterin spricht einen Dialekt, der fast wie Schaffhauserdeutsch klingt.
«Es war in meiner Arbeit als Journalistin in der Schweiz mehrmals von Vorteil, dass ich Dialekt spreche. Einer sagte mir sogar einmal nach einem Interview, das hätte er einer ‹richtigen Deutschen› nicht erzählt.»
Kurz: «Ich bin in der Schweiz auf mehr Vertrauen gestossen wegen meines Dialekts als andere Deutsche, die Hochdeutsch sprechen.»
Das Problem, schweizerdeutsche Wörter falsch auszusprechen, hatte sie also nie.
Anders ihre Kolleginnen aus Berlin: «Sie fanden das Schweizer ‹Grüezi› so schön und probierten es beim Einkaufen aus. Es kam dann aber eher wie ‹Gruzi› heraus – und sie wurden nicht verstanden.»
Deutsche sehen Dialekt als minderwertig
Deutsche, die mit Schweizerdeutsch nicht gut ankommen – ein Phänomen, das auch Sprachforscher Christoph Landolt vom Mundartwörterbuch Idiotikon kennt.
Er sagt zu Nau.ch: «Man liest häufig, dass die Deutschen nicht auf Gegenliebe stossen, wenn sie Schweizerdeutsch sprechen oder zu sprechen versuchen.»

In seiner Wahrnehmung sind die, die es überhaupt probieren, aber ohnehin in der Unterzahl.
«Die meisten Deutschen bleiben meines Erachtens beim Hochdeutsch, weil sie keinen Grund sehen, die Sprache zu wechseln. Sie werden ja verstanden.»
Dazu komme, dass der Dialekt in Deutschland einen minderwertigen Status hat. Das wirke sich sicherlich auch auf die Entscheidung aus.
Auf die Schnelle fallen Landolt nur drei Deutschstämmige aus seinem Bekanntenkreis ein, die versuchen, Schweizerdeutsch zu sprechen. «Persönlich kenne ich niemanden, der oder die negative Reaktionen erhalten hat.»
Das ist allerdings nur eine kleine Stichprobe – fundierte Studien zu dem Thema gibt es bislang nicht.
Schweizer haben «Deutschenkomplex»
Fakt ist: Es kommt vor, dass Deutsche anecken, wenn sie sich in Mundart probieren. Was steckt dahinter?
Ein Grund: «Es wird als Eindringen in eine Sphäre gesehen, in der Deutsche ‹nichts zu suchen› haben. Schweizerdeutsch hat mit der Identität der Deutschschweizer enorm viel zu tun», sagt Landolt.

«Wenn da ein Deutscher kommt und ebenfalls Schweizerdeutsch reden will, dann wird das wohl von etlichen als anmassend empfunden. Als ein Versuch, Schweizer oder schweizerisch zu sein, obwohl man gar kein Schweizer ist. Sondern – um Himmels willen – Deutscher.»
Der Sprachforscher beobachtet, dass viele Deutschschweizer Deutschen gegenüber einen «mehr oder minder ausgeprägten Komplex» hätten.
Ein Beweis für diesen «Deutschenkomplex»: «Ich habe noch nie gehört, dass beispielsweise ein Welscher, der Schweizerdeutsch spricht, schlecht ankäme. Im Gegenteil – man findet das sogar charmant.»
Schweizerdeutsch für Deutsche – ja oder nein?
Sprachwissenschaftler Philipp Striedl von der Universität Zürich ergänzt: «Wenn Deutsche Schwizerdütsch sprechen, dann positionieren sie sich damit automatisch.»
Einerseits könnten sie als anbiedernd oder unauthentisch wahrgenommen werden. Andererseits als integrationswillig oder aufgeschlossen für die Schweizer Kultur.
Doch zurück zur Frage des Reddit-Users: Sollten Deutsche einfach beim Hochdeutsch bleiben?
«Ich empfehle, so zu reden, wie es einem wohl ist», rät Soziologe Ueli Mäder. «Und je nachdem, halt ein wenig zu switchen, statt sich streng für das eine oder andere zu entscheiden.»
Und übrigens – umgekehrt kommen wir Deutschschweizer bei den Deutschen auch nicht immer gut an, wenn wir Hochdeutsch reden.
Ines Biedenkapp erklärt: «Hochdeutsch mit Schweizer Akzent klingt für die Deutschen enorm langsam. Das kann zu Missverständnissen führen – beispielsweise, dass jemand denkt, man mache sich über sie oder ihn lustig.»