Immer mehr Eltern verkünden Geburt ohne Pronomen
Schweizer Hebammen beobachten ein neues Phänomen: Eltern, die auf Pronomen und eine Geschlechtsbezeichnung für ihre Neugeborenen verzichten.

Das Wichtigste in Kürze
- Diskussionen über Geschlechterrollen haben Auswirkungen auf die Kindererziehung.
- Inzwischen verzichten einige Eltern deshalb sogar ganz auf Pronomen für ihre Babys.
- Die Kinder sollen später selbst entscheiden oder werden teils ganz nonbinär erzogen.
Mit Männern oder Frauen verbinden wir – ob bewusst oder unbewusst – gewisse Eigenschaften und Erwartungen. Sogenannte Geschlechterrollen.
Das Thema ist ein emotionales, die Meinungen dazu oft stark. «Gender» ist zum Trigger-Wort geworden.
Die Pole: Rechte Kreise wünschen sich traditionelle Rollenbilder zurück. Links dagegen fordert ein Umdenken weg von der Idee, es gebe nur zwei Geschlechter.

Mit Folgen: Die Diskussion weckt bei immer mehr Eltern den Wunsch, ihr Kind möglichst ohne Geschlechter-Erwartungen aufzuziehen.
Geburtsanzeige ohne «sie» oder «er»
Das beobachtet beispielsweise das Geburtshaus Winterthur. Geschäftsleiterin und Hebamme Lisa Bammatter sagt zu Nau.ch: «Wir haben inzwischen vereinzelt solche Fälle.»
Das Geburtshaus gibt es erst seit September 2023. Doch aus ihrer langjährigen Erfahrung als Hebamme kann Bammatter sagen: «Vor zehn, 15 Jahren gab es das noch nicht.»
Doch wie sieht das konkret aus?
Bammatter erinnert sich an zwei Familien, die die Geburt ihres Kindes ohne Pronomen und Geschlechtsnennung verkündeten. In beiden Fällen wurden die Kinder mit biologisch eindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren.
«Das eine Paar wollte dem Kind später die Wahl lassen, welchem Geschlecht es sich zugehörig fühlt», erklärt sie.
«Die andere Familie setzte bewusst auf eine geschlechtsneutrale Erziehung. Die Person, die das Baby zur Welt gebracht hat, bezeichnete sich selbst auch nicht als weiblich.»
Hier sei das Ziel nicht gewesen, dass das Kind später selbst über sein Geschlecht entscheide, sondern dass es geschlechtsneutral aufwachse.
Die Geburt wird also ohne Babygeschlecht und ohne Pronomen verkündet – und dem Kind ein genderneutraler Name gegeben. Also zum Beispiel Luca, Andrea oder Kim.
Amtlich müssen Babys trotzdem direkt nach der Geburt als männlich oder weiblich eingetragen werden. Bei Kindern, die nicht mit eindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren werden, haben die Eltern drei Monate Zeit für den Eintrag.
Eltern wählen «möglichst geschlechtsneutrale Namen»
Auch das Basler Geburtshaus Matthea stellt das Phänomen vermehrt fest. «Wir beobachten eine leichte Tendenz, dass die Eltern möglichst geschlechtsneutrale Namen verwenden», sagt Hebamme Ulrike Rau.
Gerade Mütter, die selbst queer seien, würden öfter auf Pronomen für ihre Babys verzichten. Die Geburt wird also ohne Geschlecht verkündet.

Ein Grund für die Entscheidung: «Dass das Kind die Möglichkeit hat, frei seine Identität zu finden. Und nicht schon durch das Geschlecht zu stark definiert zu werden.»
So wollen die Eltern dem Baby «eine freiere und nicht geschlechtsdefinierte Entwicklung ermöglichen».
Transgender-Organisation begrüsst Trend
Bekannt ist das Phänomen auch Frédéric Mader vom Transgender Network Schweiz. «Wir kennen Eltern, die ihren Kindern genderneutrale Namen geben und sie im Alltagsleben ohne eindeutige Geschlechtszuweisung erziehen.»
Wie häufig das vorkommt, dazu gibt es laut der Organisation keine Zahlen. Sie begrüsst die Entwicklung aber.
«Kinder sollten in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität durch ihre Eltern unterstützt werden. Sie sollen die Freiheit haben, diese zu entdecken – ohne den Zwang, gewissen Vorstellungen zu entsprechen.»
Mader hält jedoch auch fest: «Wenn Eltern für ihre Kinder ein Pronomen wie ‹er› oder ‹sie› verwenden, ist das kein Problem.» Die Geschlechtsidentität bilde sich im Laufe der Kindheit und Jugend heraus.

Wichtig sei, dass die Eltern auch bereit seien, ihr Verhalten zu ändern, falls sich das Kind damit nicht wohlfühle.
Denn: «Wenn Menschen, egal ob Eltern oder andere, die Geschlechtsidentität einer Person nicht akzeptieren, dann ist es Diskriminierung. Studien zeigen klar, dass solche Diskriminierungen längerfristig negative psychologischen Folgen haben.»
«Noch nie erlebt»
Trotzdem: Babys ohne Pronomen scheinen nach wie vor ein Nischenphänomen zu sein. Die meisten Spitäler und Geburtshäuser, die Nau.ch zu dem Thema anfragt, haben bislang keine Erfahrungen damit gemacht.
Das Zürcher Geburtshaus Delphys beispielsweise stellt zwar fest, dass die Familien «bei Gender-Themen wohl sensibler seien». Doch Kinder, die keine Pronomen erhielten, gab es dort bisher nicht.
Auch diverse Geburtshäuser und Spitäler in Luzern, St. Gallen, Basel, Bern, Biel oder Villars-sur-Glâne FR beobachten das Phänomen nicht.
Risiko, sich zu vergendern, ist klein
Die Mehrheit der Eltern setzt also weiterhin auf «sie» oder «er» für ihre Babys.
Die Wahrscheinlichkeit, sich in den ersten Lebensjahren der Kinder zu vergendern, ist statistisch gesehen jedoch auch gering.
2023 zeigte eine Studie, dass sich in der Schweiz sechs Prozent als trans oder nicht männlich oder weiblich identifizieren. 96 Prozent identifizieren sich später mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Nennt man ein Baby mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen «sie», liegt man in der überwiegenden Mehrheit der Fälle also nicht daneben.
Aufruf
Hast du dich dazu entschieden, dein Baby selbst über seine Geschlechtsidentität entscheiden zu lassen? Melde dich unter [email protected], um über deine Erfahrungen zu sprechen.