Immer mehr Menschen werden wegen Alltagsgeräuschen wütend
Bei der Misophonie werden Alltagsgeräusche zur regelrechten Folter. Betroffene sprechen dabei von einer enormen Aggressivität. Eine Expertin gibt Auskunft.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Misophonie ist das Nichtertragen von Alltagsgeräuschen.
- Betroffene zeigen bei den Geräuschen eine starke emotionale und physiologische Reaktion.
- Gezielte Strategien können helfen, das Nichtertragen der Geräusche zu lindern.
Vom lauten Händetrockner bis hin zu Schluckgeräuschen: Für Elisa K.* (21) sind solche Alltagsgeräusche schwer ertragbar. Sie sagt: «Sie machen mich nervös und teils auch sehr hässig.»
Und: «Befinde ich mich in einer Kantine und jemand schmatzt neben mir, kann ich mich nur noch auf dieses Geräusch konzentrieren. Es nervt enorm und macht mich rasend.» Teils seien es sogar nur Atemgeräusche, die sie auf die Palme bringen würden.
Auch die 28-jährige Maria F.* ist allergisch auf lautes Schnaufen und Schmatzen: «Wenn anderen Personen das Geräusch erst nach dem hundertsten Mal auffällt, höre ich es schon ab der ersten Sekunde.» Es sei für sie das lauteste Geräusch, das in diesem Moment wahrnehmbar sei und rege sie stark auf: «Es entwickelt sich eine wahnsinnige Wut in meinem Bauch.»
«Vermeidungsstrategien bis hin zu sozialem Rückzug»
Solche Symptome sind ein typisches Muster der Misophonie. Darunter fallen diverse Alltagsgeräusche, die uns stören.
Katharina Ledermann, Psychotherapeutin am Universitätsspital Zürich, erklärt gegenüber Nau.ch: «Geräusche wie Schmatzen, Schlürfen, Atmen, Schlucken, Kauen sind für andere oft nicht bemerkbar, jedoch für die Betroffenen unaushaltbar.» Sie umschreibt die Misophonie als das «Nichtertragen von Alltagsgeräuschen».
«Wenn Betroffene mit diesen Geräuschen konfrontiert werden, zeigen sie eine stark emotionale und physiologische Reaktion. Diese kann von innerer Anspannung und Nervosität, Herzrasen, Panik bis hin zu Aggressivität gehen», erläutert Ledermann.
Die Personen können dann nicht weghören oder sich ablenken: «Sie sind dann oft richtig aggressiv und angespannt.» Dies führe in der Folge zu zunehmenden «Vermeidungsstrategien bis hin zu sozialem Rückzug».
Betroffenheit und Ursachen
Von der Misophonie seien etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung betroffen. Doch die Dunkelziffer sei wahrscheinlich deutlich höher. Die Psychotherapeutin betont: «Gemäss Studien kann es bereits im Alter von zehn Jahren beginnen.» Jedoch seien die betroffenen Altersgruppen sehr unterschiedlich.
Aber wie kommt es überhaupt dazu? «Studien deuten vor allem auf eine Überaktivierung bestimmter Hirnregionen, die für die Verarbeitung der auditorischen und emotionalen Reize verantwortlich sind.» Aber: «Die genauen Ursachen sind bisher noch nicht erforscht», sagt Ledermann.
Wie man das Nichtertragen lindern kann
Dass die Misophonie ganz weggehen kann, denkt Ledermann eher nicht: «Aber man kann sicher lernen, besser damit umzugehen.»
Dabei spricht sie Bewältigungsstrategien an, um das Nichtertragen zu lindern: «Ich hatte in der Vergangenheit eine Patientin mit langjähriger Misophonie, die wir durch psychotherapeutische Behandlung erfolgreich behandeln konnten.» Obwohl die Patientin das Geräusch immer noch «grusig» fand, löste es «nicht mehr diese extreme emotionale Reaktion aus».
* Namen von der Redaktion geändert.