Immer mehr Spital-Patienten leiden an Mangelernährung
Etwa jeder dritte Patient in Schweizer Spitälern ist gefährdet, an Mangelernährung zu erkranken. Schlechte Menüs verstärken dieses Problem.
Das Wichtigste in Kürze
- In Schweizer Spitälern ist etwa jeder dritte Patient von Mangelernährung gefährdet.
- Das Problem wird gesehen, aber nicht überall angegangen.
- Das Bedauerliche daran: Sparmassnahmen beim Essen verursachen im Endeffekt mehr Kosten.
- Mangelernährung führt nämlich zu verlängerten Spitalaufenthalten und erhöhter Sterberate.
Spitalessen hat einen schlechten Ruf. Die meisten Menüs seien verkocht und geschmacklos, so Kritiker. Spitalküchen halten dagegen: Entscheidend seien die Nährwerte der Mahlzeiten, nicht ihr Geschmack, ihre Bissfestigkeit oder ihr Aussehen.
Doch mit der Gegenrede übersehen sie ein gravierendes Problem: Das Essen – verkocht, pappig und fad – wird verschmäht, besonders von Personen, die bereits beim Eintritt ins Spital unterernährt sind.
Unmengen an Resten gehen in den Abfall und schon zuvor schlecht ernährte Patienten nehmen bei längeren Aufenthalten dramatisch ab. Selbst bisher gut genährte Patienten können hier an Mangelernährung leiden.
In der Schweiz sind laut der Insel-Gruppe 20 bis 30 Prozent aller Patienten gefährdet – Tendenz steigend.
Aus diesem Grund verfügen die Insel-Spitäler über eine Kommission für Ernährungsfragen. Das erklärt Lia Bally, Leitende Ärztin im Inselspital Bern, auf Anfrage. Sie erarbeitet Stellungnahmen, Standards und Empfehlungen rund um das Thema. In einer Arbeitsgruppe werde aktuell ein systematisches Verfahren zur frühzeitigen Erkennung und gezielten Behandlung von Mangelernährung entwickelt.
Patienten kommen nicht freiwillig
Das Kantonsspital Winterthur hat – was das Essen betrifft – einen «hervorragenden Ruf», sagt Mediensprecher Thomas Meier. «Das bestätigen unsere Patienten immer wieder.»
Dennoch: Sie kämen ja nicht freiwillig ins Spital. Ihr Aufenthalt sei oft mit Schmerzen und Unannehmlichkeiten verbunden. «Unter diesen Bedingungen hat das Essen einen ganz anderen Stellenwert als zu Hause», erläutert Meier. Die Aufgabe des Spitals sei es, das Essen den Patienten trotzdem schmackhaft zu machen.
Für Patienten, die einer speziellen Diät bedürften, stelle ein Team von Spezialisten die Mahlzeiten je nach Krankheit und Therapie zusammen. Andere könnten ihr Menü vor dem jeweiligen Service aus einer grossen Auswahl an Speisen individuell zusammenstellen. Auch die Portionengrösse könnten sie festlegen.
So soll es möglichst wenig Mangelernährung geben. Etwas von grossem Stellenwert, da gesundheitliche Komplikationen nicht zuletzt «ein versteckter Kostenfaktor im Gesundheitswesen» seien, sagt Meier. Sie könnten zu verlängerten Spitalaufenthalten und erhöhter Sterblichkeit führen.
Appetit im Spital schnell verdorben
Auch im Kantonsspital Aarau spielt die Qualität der Küche eine wichtige Rolle. «In Spitälern gibt es eine Menge Dinge, die einem den Appetit verderben könnten», sagt Philipp Schütz, Chefarzt am Kantonsspital und Leiter der medizinischen Universitätsklinik. «Die fremde Umgebung, die chemischen Gerüche, die ungewöhnlichen Mahlzeiten, die zu ungewöhnlichen Uhrzeiten serviert werden.»
Aus diesem Grund, so Schütz, werde das Essensangebot für Aarauer Patienten möglichst individuell gestaltet. Ohne solche Massnahmen steige das Risiko einer Mangelernährung.
Vor allem bei der bereits gefährdeten älteren Generation, deren Stoffwechsel oft langsam sei. Laut Schütz dürften etwa 20 bis 30 Prozent von ihnen während Spitalaufenthalten unterernährt werden. Bei Krebskranken sei die Zahl sogar noch höher.
Chronisches Problem verlangt chronische Lösung
«Das Problem ist chronisch und erfordert daher eine chronische Lösung», sagt Schütz. Hilfreich seien zum Beispiel «Screenings» bei der Ankunft im Spital als Gefährdungsbeurteilung. Allerdings seien diese noch nicht überall gängige Praxis.
Weiter stünden Spitäler in der Schweiz unter finanziellem Druck. Sie sparen am liebsten dort, «wo es am wenigsten wehtut», so Schütz weiter. Heisst: beim Essen und der Ernährungsberatung.
Schliesslich zeigen sich die Folgen der Mangelernährung meist erst nach der Entlassung aus dem Spital: «Sie werden also nicht mit den direkten Folgen ihrer Spareinlagen konfrontiert», sagt Schütz.
Ein Versuch, das Beste rauszuholen
«Es stimmt schon: Ein Spital ist kein Hotel», sagt Urs Wandeler, Leiter der Gastronomie des Spitalzentrums Oberwallis. «Nicht alle haben die Möglichkeit, das Kochen für ihre Patienten zu einer wichtigen Priorität zu machen.» Er und seine Mitarbeiter würden aber versuchen, mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Beste rauszuholen.
Oberste Priorität sei, die Patienten überhaupt zum Essen zu bewegen. «Der emotionale Trost, den ein gutes Essen bietet, hat einen grossen Einfluss auf ihren Aufenthalt. Und letztendlich auf ihre Genesung», sagt Wandeler. Für die Menüauswahl im Spitalzentrum seien die Patienten sehr dankbar, glaubt er.