Infektiologe über Corona: «Krankheitsbild, das wir nicht verstehen»
Hansjakob Furrer ist Chefarzt und Klinikdirektor der Infektiologie am Berner Inselspital. Im Interview spricht er über Massnahmen, Entwicklungen und Aussichten.
Das Wichtigste in Kürze
- Hansjakob Furrer ist Klinikdirektor und Chefarzt der Infektiologie am Berner Inselspital.
- Als Professor ist die Corona-Forschung ein wichtiger Teil seiner Arbeit.
- Mit Nau.ch redet er über den Umgang mit dem Coronavirus.
Nau.ch: Herr Furrer, wie schätzen Sie die aktuelle Lage zum Coronavirus in der Schweiz ein?
Hansjakob Furrer: Es ist gar nicht so einfach zu sagen, wo wir stehen. Es gibt noch viele offene Fragen in der epidemiologischen Beurteilung der Situation. Das, was wir mit dem Soft-Lockdown erlebt haben, hat grandios funktioniert. Praktisch ohne Polizeieinsatz hat man die Bevölkerung gut erreicht und praktisch alle haben mitgemacht.
Die epidemische Kurve ist zum Beispiel in Bern gar nie wirklich hoch angestiegen. In Genf und im Tessin konnte man die Zahlen mit den Massnahmen schnell wieder senken. Man hat gesehen, dass man mit Massnahmen, die die Tröpfcheninfektion verhindern, die Kurven schnell abflachen kann.
Nau.ch: Wurden die richtigen Massnahmen eingeführt?
Hansjakob Furrer: Verschiedenste Massnahmen wurden ergriffen. Wissenschaftlich wäre es am spannendsten gewesen, die Massnahmen schrittweise abzubauen, um zu sehen, was mit den Zahlen passiert. Man hat dann aber mehr oder weniger alle Massnahmen gleichzeitig aufgehoben.
Es ist eine schwierige Situation für die Bevölkerung. Unser Leben ist jetzt ein anderes. Aber es bleibt wichtig: Wenn wir uns an die Massnahmen halten, die die Tröpfcheninfektion verhindern, dann sollten wir den im Juli beobachteten Anstieg wieder rückgängig machen können.
Wenn sich jetzt nichts ändert, dann habe ich Angst, dass wir bald wieder an einem Punkt sind, wo wir sagen müssen: Jetzt ist es zu viel.
«Ein Krankheitsbild, das wir noch nicht verstehen»
Nau.ch: Mit dem Sinken der Zahlen wurden die Rufe der Skeptiker lauter: Es seien an der Sommergrippe-Welle wohl mehr Schweizer gestorben als im gleichen Zeitraum am Coronavirus. Was macht das Coronavirus dennoch so gefährlich?
Hansjakob Furrer: Covid-19 ist eine Krankheit, die wir noch nicht verstehen. Es zeigt sich ein zweistufiges Krankheitsbild: Erst kommt der Virusinfekt, an dem wir grippeähnlich erkranken. Danach geht es vielen wieder gut.
Doch ein Teil der Menschen wird schwer krank. Sie zeigen eine massive Abwehrreaktion, die neben der Lunge die Gefässe und viele Organe befällt und deshalb lebensgefährlich wird. Die Patienten haben auch nach zwei bis drei Monaten noch Beschwerden. Es ist gut möglich, dass die Lunge und andere Organe über Jahre geschädigt bleiben.
Bei der Grippe ist es auch so, dass man schwer krank werden kann. Aber wer überlebt, wird meistens wieder so gesund wie vorher.
Nau.ch: Das Coronavirus unterscheidet sich also von einer «harmlosen» Grippe?
Hansjakob Furrer: Es ist für mich ein eklatanter Unterschied: Bei Corona gibt es ein eigenes, zusätzliches Krankheitsbild in der zweiten Phase. Wir sehen eine schwere Krankheit, bei der wir Mühe haben, die Leute auf der Intensivstation am Leben zu halten. Auch in Bern sterben rund zehn Prozent der Intensivpatienten mit Covid-19.
Solange wir die Krankheit nicht besser verstehen und behandeln können, bin ich sehr dafür, dass wir die Ansteckungsgefahr so gering wie möglich halten.
Nau.ch: Sie sprechen die Behandlung an: Bei den Medikamenten zeigt sich noch wenig Fortschritt, anders ist es bei den Impfstoffen. Die ersten Impfstoffe erreichen nun die Phase III der klinischen Studie. Ist diese erfolgreich abgeschlossen, erfolgt die Marktzulassung – wie lange dauert es noch?
Hansjakob Furrer: Schaut man sich frühere Impfstoff-Projekte an, würde es ab diesem Zeitpunkt sicher noch mindestens ein Jahr dauern. Viele möchten Anfang des nächsten Jahres einen Impfstoff haben. Aber auch wenn die Studien gut gemacht sind, werden wir weniger über diese Impfstoffe wissen, als wir uns gewöhnt sind.
Wir müssen die Wirkung bei tausenden von Studienteilnehmern nachweisen. Wenn man, wie in der Schweiz, weniger als 200 nachgewiesene Corona-Fälle täglich hat, dauert das sehr lange. Dies muss daher in Ländern wie Brasilien oder den USA, wo sich viel mehr Menschen anstecken, passieren.
«Die Frage, wie lange der Impfschutz anhält, bleibt»
Nau.ch: Was passiert, nachdem die Studie zustande gekommen ist?
Hansjakob Furrer: Dann muss man natürlich beweisen, dass es wirkt – aber man muss auch nachweisen, dass die Impfung nicht schadet. Gerade beim RNA-Impfstoff von Moderna gibt es noch keinen Impfstoff für den Menschen, der so funktioniert. Man muss also auch die Sicherheit zeigen und auch seltene Nebenwirkungen erfassen können: Ein Impfversuch kann auch schiefgehen, ein Scheitern der Phase-III-Studien ist also nicht ausgeschlossen.
Werden die Impfstoffe nun im Schnelldurchlauf zugelassen, ist die Frage: Wie geht man mit den fehlenden Daten um? Wir werden zum Beispiel nicht wissen, wie lange der Impfschutz anhält.
Nau.ch: Zurück zur aktuellen Situation: Die Zahlen sind wieder leicht angestiegen. Wie geht man damit um? Genügen die Massnahmen, womit müssen wir rechnen?
Hansjakob Furrer: Ich habe befürchtet, dass es so kommt. Jetzt müssen wir eine Antwort auf die steigenden Zahlen finden. Das ist auch politisch eine schwierige Aufgabe. Ein erneuter Lockdown wie im März ist politisch kaum machbar und wahrscheinlich auch nicht nötig.
Wir wissen nicht genau, welche zusätzlichen Massnahmen jetzt etwas bringen würden. Jetzt muss die Politik die Bevölkerung gut erreichen. Wenn sie die Menschen dazu bringt, Tröpfcheninfektionen mit Distanz und Maskentragen zu minimieren, dann können wir wohl die Ansteckungsrate wieder senken.
Nau.ch: Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement des Bundes?
Hansjakob Furrer: Das neue Epidemiengesetz hat sich als wirklich sinnvoll erwiesen. Ansonsten wäre der Lockdown gar nicht möglich gewesen. Es braucht für eine Pandemie eine Lösung, bei der nicht jedes Dorf selbst entscheidet. Während der ausserordentlichen Lage lief es eigentlich gut.
Die Schweiz ist allerdings ein föderalistischer Staat, in dem man die übergeordnete Rolle des BAG nicht unbedingt mag. Dementsprechend ist es jetzt eine politische Frage, wie es weitergehen soll.
Es gab viel zu lernen: Man hat eine beratende Taskforce von Fachleuten gebildet. Entscheiden mussten dennoch die Entscheidungsträger. Hier stellt sich die Frage: Wie kommuniziert man untereinander? Wann kommuniziert man wie über die Presse?
«Das BAG kann von den Kantonen lernen»
Nau.ch: Das BAG stand zuletzt aufgrund seiner Kommunikation in der Kritik – nicht nur von den Medien, sondern auch vom Taskforce-Experten Sebastian Bonhoeffer: Er warf dem BAG vor, viel zu wenige Zahlen zu kommunizieren. Teilen Sie diese Kritik?
Hansjakob Furrer: Die Daten werden in den Kantonen erhoben, das heisst, dass das System zerstückelt ist. In der heutigen Zeit muss das Zusammentragen dieser Informationen über eine Plattform effizient möglich sein. Wir brauchen vertrauenswürdige Daten für die ganze Schweiz, in denen man auch die Entwicklung in den Regionen nachverfolgen kann.
An dieser Interaktion zwischen Bund und Kantonen muss gearbeitet werden. Die Zusammenstellung der Daten ist Aufgabe der Kantone, das beschränkt die Möglichkeiten des zentralen BAG. Von der guten Aufbereitung der Zahlen in gewissen Kantonen kann das BAG sicher auch lernen.