Keiner zu Hause: Jetzt schreiben Zeugen Jehovas Briefli
Die Zeugen Jehovas vermeiden immer häufiger Hausbesuche – auch weil sie als «Belästigung» empfunden werden. Doch die Zeugen haben Alternativen in petto.
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Das Wichtigste in Kürze
- Wer bei den Zeugen Jehovas dabei ist, muss ständig neue Mitglieder anwerben.
- Statt auf Hausbesuche setzt die umstrittene Religionsgemeinschaft vermehrt auf Briefe.
- Ein Religions-Experte verrät: Die Hausbesuche werden vermehrt als «Belästigung» empfunden.
Hat es sich ausgeklingelt?
Statt auf Haustürbesuche setzen die Zeugen Jehovas vermehrt auf Briefe und Zetteli. Nau.ch-Leserin Cornelia Vogel* staunt nicht schlecht, als sie einen handgeschriebenen Brief der umstrittenen religiösen Gruppierung vorfindet.
«Der Brief war zwar handgeschrieben, aber kopiert. Das dünkt mich ganz schräg», sagt sie.
Im Brief heisst es dann in holprigem Deutsch: «Mit diesen wenigen Zeilen möchte ich Ihnen ein kostenloses Bibelkurs anbieten.»
Dann geht es um Erkenntnis, Glück und Liebe – und wie die Bibel all dies fördere.
«Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre und erwarte Ihre Antworte», heisst es am Schluss.
Doch statt bei den Zeugen Jehovas meldet sich Vogel auf der Nau.ch-Redaktion. Sie wundert sich: «Sind diese Briefe die neue Strategie, um nicht mehr für Hausbesuche klingeln zu müssen?»
Nau.ch fragt bei den Zeugen Jehovas der Schweiz nach. Diese betonen, auch in Zukunft nicht aufs Klingeln verzichten zu wollen.
Zeugen Jehovas stossen vermehrt auf verschlossene Türen
Sprecher Dominic von Niederhäusern klärt auf: «Jehovas Zeugen folgen seit über 100 Jahren dem urchristlichen Modell und besuchen Menschen zu Hause. Um mit ihnen über die gute Botschaft der Bibel zu sprechen.»
Dabei suche man wann immer möglich den persönlichen Kontakt. «Daran hat sich bis heute nichts geändert. Da aber heute viele Menschen nicht mehr so oft zu Hause und deshalb schwer zu erreichen sind, versuchen wir zum Teil auch auf brieflichem Weg, einen biblischen Gedanken zu teilen.»
Von Niederhäusern sieht darin einen «persönlichen Ausdruck» des christlichen Glaubens. «Unser Ziel ist daher nicht ein messbares Ergebnis oder Erfolg, sondern die Freude am Weitergeben unserer Überzeugung.»
Doch nicht genug: Neben vermeintlichen Handschrift-Briefen setzen die Religiösen auch auf Kinder beim Missionieren!
Auch Kinder helfen beim Missionieren
So erhält ein Nau.ch-Reporter kürzlich in Köniz BE von einem jungen Mädchen ein Zetteli zugesteckt. «Es geht um einen Gratis-Bibelkurs», sagt das von ihren Eltern begleitete Kindsgi-Kind.
Der Reporter lehnt jedoch dankend ab.
Sprecher Dominic von Niederhäusern erklärt: «Wie einzelne Familien von Jehovas Zeugen dies gemeinsam mit ihren Kindern gestalten, bleibt natürlich ihnen überlassen.»
Er verweist aber darauf, dass auch viele junge Menschen die Bibel als «wertvolle und verlässliche Orientierungshilfe» anschauen. Daher würden auch sie gerne biblische Gedanken mit anderen teilen.
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Religions-Experte Georg Schmid ordnet dies für Nau.ch ein. Die handgeschriebenen Briefe gehören laut Schmid zu den traditionellen Werbemethoden der Zeugen Jehovas. «Neben dem Von-Tür-zu-Tür-Predigtdienst und dem Verteilen von Schriften auf öffentlichem Grund.»
Der Experte erklärt: «Zeuginnen und Zeugen sind ja gehalten, wöchentlich ‹Predigtdienst› zu halten. Das heisst, Menschen für die Zeugen anzuwerben zu versuchen.»
Und da können eben auch schon Kinder mitwirken!
«Erwartet wird der Predigtdienst erst nach der Taufe. Das heisst von Zeuginnen und Zeugen, die sich als Jugendliche oder Erwachsene taufen liessen. Dass Eltern ihre Kinder zum ‹Predigtdienst› mitnehmen, ist nichts Neues», so Schmid.
Hausbesuche zunehmend als «Belästigung» empfunden
Doch der Schein trüge nicht, dass die Hausbesuche bei den Zeugen Jehovas immer seltener werden.
Schmid weiss: «Während Corona mussten die Zeugen Jehovas ihren Predigtdienst auf die Missionierung per Brief fokussieren. Viele Zeugen sind bei dieser Form der Werbung geblieben.»
Während der Coronapandemie setzte die Gruppierung noch auf eine weitere Missionierungsmethode: Im Sommer 2022 fand eine Nau.ch-Reporterin einen farbigen Stein in der Berner Aare.
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Nebst dem ist auch das Missionieren auf der Strasse beliebt.
«Demgegenüber hat der Von-Tür-zu-Tür-Predigtdienst an Bedeutung verloren. Was auch damit zusammenhängt, dass unaufgeforderte Besuche heute zunehmend als Belästigung empfunden werden», verweist der Religions-Experte.
Die Zeugen Jehovas gelten als eine problematische Gruppierung. Die Rede ist von Menschenrechtsverstössen. Sogar Kinder würden geächtet, wenn sie aus der Gruppe austreten.
Ex-Mitglied: «Zeugen Jehovas lügen und manipulieren»
Ex-Mitglieder üben starke Kritik. So auch Christian Rossi, der heute bei der Fachstelle Infosekta über Sekten aufklärt.
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Im Sommer 2024 kritisierte Rossi bei Nau.ch: «Eine Berufslehre wird gerne gesehen, mehr nicht. Am besten arbeitet man später auch Teilzeit, um nebenbei missionieren zu können.»
Sie würden es zwar nicht so sagen, doch es sei klar: «Sie wollen dich möglichst ungebildet halten, damit du einfach zu manipulieren bist.»
Weiter sagte er: «Die Zeugen Jehovas werden von Männern in den USA geführt, die lügen, manipulieren und sich nicht für Fehler entschuldigen. Man wird zu absurden Dingen gezwungen, die nicht stimmen oder für die es keinen Grund gibt.»
Rossi erinnerte an das Verbot von Bluttransfusionen. «Ich kenne Menschen, die deshalb Familienmitglieder verloren haben.»
Man stelle sich vor, es hiesse plötzlich, die leitende Körperschaft habe das falsch verstanden – und Bluttransfusionen würden erlaubt.
«Dann wäre ja klar, dass all die Menschen, die eine Bluttransfusion gebraucht hätten, umsonst starben.» Eine Entschuldigung würde es aber nicht geben.
* Name von der Redaktion geändert.