Künstliche Intelligenz: Berner lässt Leben von ChatGPT bestimmen
Das passende Geschirrset suchen und richtig Abfall entsorgen – Tom erzählt, wie er sein Leben mit Antworten von KI vereinfacht. Problematisch?
Das Wichtigste in Kürze
- Tom lässt seinen Alltag zunehmend von Künstlicher Intelligenz mitbestimmen.
- «Mein Leben wird dadurch einfacher», sagt er.
- Eine Expertin erklärt, wo hier die Gefahren lauern.
Tom W.* (28) steht oft vor alltäglichen Herausforderungen. Der Berner leidet unter einer Angststörung und Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS). «Ich habe ständig tausend Ideen gleichzeitig und kann mich nie entscheiden, welche die richtige ist», erzählt er.
Selbst einfache Entscheidungen, wie die Wahl zwischen Vollkorn- und Weissbrot im Konsum, werden zur Qual. «Vollkorn ist gut für den Darm, aber auf Weissbrot habe ich mehr Lust», beschreibt er seine Gedankengänge.
Die Lösung? Tom W. fragt einfach ChatGPT.
«Die KI hat mir bestätigt, dass Vollkorn gesünder für den Darm ist und schlug einen Kompromiss vor: Vollkornbrot und eine kleine Portion Weissbrot für den Gluscht», sagt er.
Seitdem nutzt er ChatGPT immer häufiger, um Entscheidungen zu treffen. Ob es darum geht, ein Foto seiner Zimmerpflanze zu analysieren, um festzustellen, ob sie genügend Wasser bekommt. Möglichst effizient die Wohnung zu putzen.
Oder wie er seine Steuererklärung korrekt ausfüllt – die KI ist zur ständigen Begleiterin geworden. «Dank ChatGPT lernte ich kochen. Einmal fragte ich sogar, welcher Wein am besten zu welchem Gang passt, als ich wichtigen Besuch hatte. Ich wollte, dass alles perfekt ist», berichtet Tom.
«Der Wein schmeckte übrigens sehr gut.»
ChatGPT wird zum Interior Designer
Doch die KI kann noch mehr: «Ich habe ChatGPT ein Foto meines Esstisches und meines Geschirrs gesendet. Und fragte: Welche Tischunterlage passt am besten dazu?»
Die KI erstellte eine Pro- und Contra-Liste für verschiedene Farben. Und schon fiel Tom. W die Entscheidung leichter.
«Einmal war ich beim Aufräumen so überfordert. Also sendete ich ChatGPT ein Foto vom Chaos und fragte, wie ich vorgehen soll.»
ChatGPT habe dann erklärt, dass Tom mit dem Müll beginnen und dann das Geschirr in die Küche bringen solle. «Als ich ChatGPT erklärte, dass sogar in der Küche Chaos herrsche, sagte es mir, dass ich dort anfangen soll …»
Der Berner reflektiert: «Alles eigentlich naheliegend – aber ich habe wegen meines ADS manchmal einfach Mühe, auf die einfachsten Lösungen zu kommen.»
Selbst bei alltäglichen Aufgaben wie der Abfallentsorgung hilft ihm die KI. «Ich wollte alte Konservendosen wegwerfen und fragte mich, ob ich sie vorher leeren muss. ChatGPT erklärte mir, dass der Recycling-Prozess mehr Energie benötigt, wenn die Dosen nicht leer sind. Also entschied ich mich, sie zu leeren», sagt er.
Manchmal stellt Tom an einem Tag 30 oder mehr Anfragen an die Künstliche Intelligenz. «ChatGPT macht mein Leben einfacher. Es lebt sich besser. Doch es macht mir auch Angst – bin ich schon abhängig?»
Künstliche Intelligenz: Abhängigkeit oder Werkzeug?
Nau.ch hat nachgefragt. Karin Kopse, eine Fachpsychologin für Coaching aus Bern, sieht grundsätzlich keinen Grund zur Sorge. Solange die Nutzung der KI reflektiert erfolgt.
«Es ist in Ordnung, ChatGPT zur Unterstützung heranzuziehen.» Insbesondere, wenn wie bei der Entsorgung dabei noch eine Wissenslücke gefüllt wird, erklärt sie.
Doch: «Die KI kann dem Nutzer aber nicht helfen, seine Werte zu finden.» Die Frage «Wer bin ich», könne nur Tom selbst beantworten.
Ist die Antwort da, «kann die KI Informationen bereitstellen, welche helfen, Entscheidungen zu treffen». Entscheidungen, welche diesen Werten entsprechen. So etwa bei der Entsorgung von Konserven.
Dennoch warnt die Psychologin vor möglichen Gefahren: «Die Person könnte unangenehme Gefühle und Entscheidungen durch die KI-Nutzung vermeiden.»
Nutzer könnte Entscheidungsfähigkeit verlieren
Und auch der Alltag würde beeinflusst: «Die Zeit, die für ChatGPT aufgewendet wird, könnte auch für erfüllendere Aktivitäten genutzt werden. Zudem besteht das Risiko, das Vertrauen in die eigenen Entscheidungsfähigkeiten zu verlieren.»
Kopse vermutet: «Tom W. hat Angst, mit seinen eigenen Entscheidungen nicht zur Norm zu passen. Vielleicht wollte er ein pinkes Tischset und befürchtete, danach ausgelacht zu werden.»
Mit ChatGPT habe er dann eine Lösung gesucht, die mehrheitskonform ist.
Die Psychologin erklärt: «Gerade Menschen mit ADS machen nämlich oft die Erfahrung, Entscheidungen zu treffen, die ihrer Umwelt nicht passen.»
Darauf angesprochen widerspricht Nau.ch-Leser Tom: «Mir fällt es mit etwas Hilfe schlicht einfacher, die Entscheidung zu treffen, die für mich absolut stimmt.»
Interessanterweise wird Künstliche Intelligenz auch zunehmend in der Psychologie eingesetzt. Ein Experte warnte bereits vor einem Jahr gegenüber Nau.ch vor den Risiken, die dabei lauern.
Auch Kopse hat Bedenken: «Die Künstliche Intelligenz denkt, wie sie denkt, weil sie mit Meinungen von Menschen gefüttert wurde. Dadurch ist sie immer voreingenommen.»
Darum müsse der Nutzer nicht nur die richtigen Fragen stellen. «Er sollte auch seine eigenen Werte kennen. Und zu diesen stehen.»
Dass Künstliche Intelligenz nicht nur Gutes bringt, zeigen auch Berichte über Überwachung und wirtschaftliche Abhängigkeiten.
*Name der Redaktion bekannt