Meinungsforscher: «Links sein feit nicht davor, intolerant zu sein»
Hetze im Netz: Sie kommt aus den verschiedensten Lagern. Auch die Linke ist – anders, als einige meinen – nicht unschuldig, erklärt ein Experte.
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Das Wichtigste in Kürze
- Social Media ermöglicht es, anonym und vor grossem Publikum Hass und Hetze zu verbreiten.
- Ein Forscher gibt zu bedenken, dass auch Linke für solche Inhalte verantwortlich sind.
- Links sein und sich für Minderheiten einzusetzen, feie nicht davor, intolerant zu sein.
«Es war zerstörerisch und machte mega viel kaputt – auf allen Ebenen», sagt Donat Blum gegenüber SRF Dok. Der Film erzählt die Geschichten von Menschen, die Hass und Hetze im Netz ausgesetzt sind.
Der heute 38-Jährige war im Juli 2023 Mitherausgeber des Sammelbandes «Oh Boy – Männlichkeit*en heute».
Das Buch fand bei Kritikern wie Publikum Anklang. Es zog aber auch eine beispiellose Hetzkampagne nach sich, an deren Ende Blum gecancelt wurde.
Der Grund: In einem der 18 Texte beschreibt Autor und Mitherausgeber Valentin Moritz vage einen sexuellen Übergriff, den er selbst begangen hat.
Einmal der Böse, immer der Böse
Die betroffene Frau erkannte sich wieder und meldete sich mit einem anonymen Statement auf Instagram.
Nach dem Übergriff habe sie Moritz klargemacht: Sie wolle nicht, dass er «seine gewaltvolle Aneignung meines Körpers als Gegenstand seines Textes im Buch verwendet».
In der Folge rief sie zum Boykott des Buches auf. Der Post ging viral.
Blum sagt: Der Text habe nicht wirklich etwas mit dieser Frau zu tun. Es gehe vielmehr darum, «dass ein heterosexueller Mann reflektiert, warum er Mühe hat, Grenzen zu erkennen».
Die Community sah das freilich anders, der Online-Pranger war eingerichtet. «Fassungslos, wie diese Autoren mit Gewalt umgehen. Es ist zum Kotzen». «Männer, die sich Feministen nennen, es aber nur tun, weil es ihnen dient», wurde etwa kommentiert.
Am Anfang habe er sich noch zu den Vorwürfen geäussert, sagt Blum. Doch was er auch gesagt habe – es sei bloss erneut gegen ihn verwendet worden: «Wenn du mal als böse gelabelt worden bist, kommst du da nicht mehr raus.»
Von Veranstaltern boykottiert
Nachdem der Kanon-Verlag zunächst beschwichtigt hatte, löste ein Post des feministischen Kollektivs «Keine Lesung für Täter» eine Empörungswelle aus.
Darauf folgten öffentliche Anfeindungen gegen die Herausgeber, persönliche Drohungen und die Veröffentlichung privater Adressen.
Als sich der Shitstorm zuspitzte, zog der Verlag das Buch zurück. Die Kritik an Moritz verschob sich zunehmend auf Mitherausgeber Donat Blum, der sich weigerte, sich von Moritz zu distanzieren.
Dies wäre zwar der einfachste Weg gewesen, um der prekären Lage zu entfliehen, räumt Blum ein: «Aber dann hätte ich mich verleugnet und wider besseres Wissen und Gewissen gehandelt.»
Blum erlitt berufliche und finanzielle Einbussen, da Veranstalter ihn boykottierten.
Er sagt: «Ich habe mir über fast 20 Jahre ein gewisses Standing in der queeren Literatur aufgebaut. Das wurde alles kaputt gemacht.»
Die «blinden Flecken» der Linken
Für Politologe Michael Hermann zeigt Blums Fall anschaulich die «blinden Flecken» in der linken Szene. Menschen mit linker Gesinnung fühlten sich stärker im Recht, weil sie sich für Schwache und Minderheiten einsetzen, so Hermann.
«Das feit aber nicht davor, selber intolerant zu sein und problematische Äusserungen zu machen.»
Für Hass und Hetze verantwortlich sind aber Menschen mit den unterschiedlichsten Gesinnungen. Ein weiteres Beispiel: Der Fall Jolanda Spiess-Hegglin.

Sie wird seit Jahren von Stalkern verfolgt, im Netz beschimpft und online sexuell belästigt. Das ist ein weiteres Phänomen, das der Meinungsforscher beobachtet: Frauen und Männer werden anders kritisiert.
Frauen werden «viel mehr als Gesamtperson mitbeurteilt», nicht nur für das, was sie sagen. Auch, dass der Hass «sexualisiert ist», würden Frauen viel mehr erleben als Männer.