Mythos Rütli: Warum feiern wir ausgerechnet am 1. August?

Nadine Brügger
Nadine Brügger

Uri,

1291, 1307, 1315 oder doch 1848? Wie die Schweiz zu ihren vielen «Geburtstagen» kam – und warum der Bundesrat sich für den 1. August entschieden hat.

Rütli
Die Wiese auf dem Rütli, eingebettet zwischen Berge und Vierwaldstättersee. Hoch ragt die Schweizerfahne an jener Stelle auf, an der die Schweiz 1291 gegründet worden ist. - Keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Bundesbrief vom 1. August 1291 besiegelt ein loses Landfriedensbündnis - keine Nation.
  • 1891 wurde der 1. August erstmals gefeiert – er sollte im jungen Staat Identität stiften.
  • Offiziell gegründet wurde die Schweiz, wie wir sie heute kenne, im Jahre 1848.

Seine breite Bronze-Brust glänzt in der Sonne. Der Blick geht wachsam in die Ferne: Keine andere Figur verkörpert Sturheit, Kampfgeist und Stolz der alten Eidgenossen mehr, als Wilhelm Tell.

Für stärkere eidgenössische Gefühle sorgt nur noch das Rütli. Die mythologische Wiese glänzt im Hintergrund der Tellen-Figur. Gemeinsam bilden Tell und Rütli das Fundament unseres eidgenössischen Gemeinschaftsgefühls.

Mittwoch vor Martini 1307

Doch – Moment - warum wurde die Jahreszahl 1307 in den Sockel der Statue von Altdorf, Uri, eingelassen? Ist es das Jahr des Apfelschusses?

Warum prangt auf dem Sockel der Tellen-Statue in Altdorf (Uri) das Datum 1307?
Warum prangt auf dem Sockel der Tellen-Statue in Altdorf (Uri) das Datum 1307? - Keystone

Nein. Am «Mittwoch vor Martini, anno domini 1307», notiert der Glarner Chronist Ägidius Tschudi in seinem «Chronicon Helveticum» von 1550 «ward diese püntnus von den genanten drijen tapfern personen in dem land Uri (im Rütlin) von erst gemacht und geswort, davon die eidtgnosschafft entsprungen». Während Jahrhunderten galt 1307 als Gründungsjahr der Eidgenossenschaft.

Chronist Tschudi setzt in seiner Abhandlung den Rütlischwur von 1307 in den Kontext des Burgenbruchs, einer Rebellion der drei Waldstätten gegen die Habsburger. Sie soll ihren Anfang in jenem Augenblick genommen haben, als Reichsvogt Gessler den Bauern Tell aufforderte, einen Apfel vom Kopf seines Kindes zu schiessen. Nun wissen wir aber, dass Tell eher Mythos, als Realität ist. Und sehr wahrscheinlich kein Kind der Alpen, sondern ein bestens integrierter Skandinavier.

Tell oder Toko?

Nachdem die dänische Sagengestalt Toko erfolgreich einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schoss, fragte ihn König Blauzahn, warum er denn zwei Pfeile mitgebracht habe. Toko hat dafür die gleiche Erklärung wie unsere Sagenfigur Tell. Toko und der dänische König allerdings liefern sich ein Duell auf Skiern, bevor Toko den Blaublüter ersticht, während der gerade pinkelt. Das mit den Skiern wiederum haben die Dänen ziemlich sicher den Norwegern abgeguckt, deren mythischer Held gar eine Nuss vom Kopf des Nachwuchses schiessen muss.

Willhelm Tell verweigert dem Gessler-Hut den Gruss. Radierung um 1790 von Henri Courvoisier-Voisin.
Willhelm Tell verweigert dem Gessler-Hut den Gruss. Radierung um 1790 von Henri Courvoisier-Voisin. - Keystone

Obwohl noch 1907 offiziell gefeiert, ist das Datum vom 1307 also ungewiss. Erschwerend kommt hinzu, dass aus diesem Jahr kein Dokument erhalten blieb. Anders sieht es aus mit – 1315.

Der Morgartenbrief 1315

Im 14. Jahrhundert gehört das Kloster Einsiedeln zum Reich der Habsburger. Zum grossen Missfallen der Schwyzer breiten die Mönche sich immer weiter aus – in Schwyzer Lande. Schliesslich schwappt die Wut über: Landammann Werner Stauffacher und seine Mannen plündern das Kloster. Doch die Strafe ist hart: Sie werden vom Bischof exkommuniziert und mit dem Reichsbann belegt. Niemand darf mehr mit den Schwyzern handeln, kein Gott wacht mehr über sie. Und dann marschiert auch noch der Habsburger Herzog Leopold von Brugg aus Richtung Schwzy.

Der Vergeltungszug ist selbstverschuldet, keiner der Bündnispartner – weder Uri noch Unterwalden – müsste den Schwyzern zu Hilfe eilen. Doch sie tun es – mit Erfolg. Besiegelt wird dieses Zusammenrücken im Moment grösster Not am 9. Dezember 1315 mit dem Brief von Brunnen. Kein Wunder gewichteten die alten Eidgenossen dieses Datum lange Zeit emotional stark, während von 1291 keiner sprach.

Wie also kommt es, dass wir den 1. August feiern und «1291» am Bundeshaus steht? Der Grund für die 1. August-Feier ist kein historischer, sondern ein politischer.

Der Sonderbundskrieg von 1847

Am 29. November 1847 erklärt General Guillaume-Henri Dufour den Sonderbundskrieg für beendet. Dank seiner militärischen Taktik hatte im letzten Bürgerkrieg der Schweiz - in dem sich die katholisch-konservativen Sonderbunds-Mitglieder und die liberalen protestantischen Kantone gegenüberstanden – kein Blutvergiessen stattgefunden. Doch nun stand fest: Um den Staatenbund zusammen zu halten, musste man sich der europäischen Tendenz zur Nationalstaatenbildung anschliessen: 1848 wurde der eidgenössische Staatenbund zum Bundesstaat. Die Schweiz, wie wir sie heute kennen, war geboren.

Das gefiel aber längst nicht allen. Die Sonderbundskantone leckten ihre Wunden, der Röstigraben war alles andere als ein Mythos und selbst eine gemeinsame Entstehungsgeschichte fehlte.

Identitätssuche einer Nation 1891

Das Rütli: Mythos, eidgenössischer Sehnsuchts- oder Provokationsort.
Das Rütli: Mythos, eidgenössischer Sehnsuchts- oder Provokationsort. - Keystone

Als die Stadt Bern 1891 ihr 700-jähriges Bestehen feiern wollte, beschloss der Bundesrat, sich dem kurzerhand anzuschliessen: Eine Bundesfeier musste her. Zum Glück hatten Historiker 1758 im Archiv von Schwyz einen alten Bundesbrief, datiert auf «Anfang August» 1291, wiederentdeckt. Tüpfelchen auf dem «i»: Das Dokument vom Ufer des Vierwaldstättersees baute eine Brücke zu den besiegten Sonderbundskantonen und lud sie ein, eine zentrale Rolle in dem Staat einzunehmen, den sie hatten vermeiden wollen. Der Feier zu 600 Jahren Eidgenossenschaft stand nichts mehr im Weg.

Zelebriert wurden der eidgenössische Freiheitsdrang, Stolz, Unabhängigkeit und der Wille, trotz verschiedener Sprachen, Kulturen und Religionen eine Einheit zu bilden. Der Beweis, nach innen und aussen, dass die Schweiz durchaus eine Daseinsberechtigung hatte.

Es sollten weitere fünfzig Jahre vergehen, bis all diese Argumente am Vorabend des Zweiten Weltkrieges im Zuge der Geistigen Landesverteidigung zum Begriff «Willensnation» verschmolz. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden anderen «Geburtstage» der Schweiz endgültig in den Hintergrund gerückt. Seit 1994 gilt der 1. August auch im Arbeitsvertrag als Feiertag – und ist in allen Kantonen frei.

Das Landfriedensbündnis von 1291

1291 schliessen drei Talschaften ein Landfriedensbündnis. Das war zu dieser Zeit weder eine Seltenheit, noch war das Bündnis exklusiv. Jeder der drei Vertragspartner, ging auch weitere Verträge mit Dritten ein. Historiker zählten bereits im 19. Jahrhundert für den Zeitraum von 1251 bis 1386 82 Dokumente, mit denen ähnliche Bünde besiegelt worden waren.

Weder Uri, Schwyz noch Unterwalden ahnten, dass sie hunderte von Jahren später in einem Staat verbunden sein würden, den man Schweiz nennt. Dazu hätten die Herren auch Hellseher sein müssen, dauerte es doch mindestens 150 Jahre, bis die Weichen in Richtung Schweiz gestellt waren.

Kommentare

User #2758 (nicht angemeldet)

Ein zweiter Feiertag ist für mich eine rote Linie.

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