Nemo: Urchige Schweizer Dialekte sind teils schon genderneutral
Non-binäre Menschen wie Nemo stellen die Sprache vor eine Herausforderung. Doch einige urchige Schweizer Dialekte sind teils schon genderneutral.
Das Wichtigste in Kürze
- Mit Nemo hat eine non-binäre Person den ESC gewonnen.
- Damit rückt das Thema in den Fokus – und auch der sprachliche Umgang damit.
- In einigen urchigen Dialekten der Schweiz spricht man teilweise schon genderneutral.
Mit dem ESC-Sieg von Nemo rückt das dritte Geschlecht in den Fokus. Einige jubeln über die Aufmerksamkeit, andere stören sich daran. Besonders in konservativen Kreisen stösst das Konzept auf Unverständnis.
Zu reden gibt auch der sprachliche Umgang mit dem dritten Geschlecht. «Er» oder «sie» mögen viele Non-binäre nicht. Auch Nemo möchte lieber ohne Pronomen angesprochen werden, nimmt es aber locker: «Eure Bereitschaft zu lernen und eure Akzeptanz meines wahren Selbst bedeuten mir mehr, als es von Anfang an richtigzumachen.»
Kritische Stimmen hingegen weichen provokativ aufs «Es» aus oder weigern sich, die Pronomen wegzulassen. Argumentiert wird oft mit der Tradition.
Ländliche Dialekte brauchen kein «der» oder «die»
Nur: Ausgerechnet in diversen urchigen Schweizer Dialekten braucht man traditionell keine Artikel. Zumindest nicht an den Namen angehängt, wie Christoph Landolt vom Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache Idiotikon erklärt.
«Der artikellose Gebrauch von Personennamen ist in gewissen Gegenden der Kantone Bern, Freiburg und Graubünden bekannt.» In Bern in der südlichen Kantonshälfte, in Freiburg im Oberland und in Graubünden im Prättigau, Davos und Schanfigg.
So sprechen viele in diesen Gegenden schon lange eben von «Nemo» – und sagen nicht «de Nemo».
Das bestätigt auch Dialektforscher Christian Schmid. «Im älteren Landberndeutschen konnte man auch artikellos sagen: ‹Ursula, Peter, Vreni het gseit› oder ‹säg Peter, er mües unbedingt choo›.» Die Tradition ist dort also schon genauso, wie es Nemo für sich einführen will.
Dialekt-Experte: «Zu befehlen, wie man sprechen soll, hat grundsätzlich niemand»
Den Artikel wegzulassen, ist also kein Problem, wenn man mit Tradition argumentieren will. Bei den Pronomen – also beispielsweise die Wörter er oder sie – sieht Schmid das kritischer: «Eine Sprache gehört niemand Einzelnem, sie gehört immer der ganzen Gemeinschaft, die sie spricht. Zu befehlen, wie man sprechen und schreiben soll, hat grundsätzlich niemand.»
Man könne immer diskutieren, aber es bleibe allen Einzelnen frei, welchen Regeln sie folgen wollen. «Ich habe sehr viel Verständnis für die non-binären Forderungen. Aber ich bin gegen befohlene Festlegungen von irgendeiner Gruppe.»
Wollte man das Pronominalsystem ändern, müsste man das ganz umkrempeln, so der Experte. Er findet: «Vernünftig wäre nicht eine Trennung nach Genderformen, sondern beispielsweise nach den Kategorien belebt und unbelebt. So tun das einige First-Nation-Sprachen (indigene Völker in Nordamerika, Anmerkung d. Redaktion) und zum Teil das Englische.»
Hier werde das Gender ausgeschlossen. «Stattdessen zählen wir uns Menschen zu den Tieren, Blumen und Bäumen, was ich schön finde.» Dann würde man zum Beispiel alles Lebendige mit «sie» bezeichnen und alles nicht lebendige mit «es».
Weitere Vorschläge, die es gibt, sich aber bislang nicht durchgesetzt haben, sind genderneutrale Neo-Pronomen wie xier oder dey. Oder es statt er oder sie. Das wird aber von den meisten als respektlos wahrgenommen.