Es gibt kaum noch eine Person, die nicht mit Handy und Stöpseln in den Ohren unterwegs ist. Dadurch bekommen immer weniger mit, wenn andere belästigt werden.
Loryplatz in Bern
Die Tramhaltstelle Loryplatz in Bern: Hier belästigte ein Mann Wartende – und kaum jemand kriegte es mit. - Nau.ch

Das Wichtigste in Kürze

  • An einer Tramhaltestelle belästigte ein Mann andere Wartende, ohne dass jemand eingriff.
  • Die Leute bekamen nichts mit, weil sie auf ihr Handy starrten oder Musik hörten.
  • Experten erklären, dass die Zivilcourage leidet. Doch manchmal können Handys auch helfen.
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Diese Erfahrung hat Nau.ch-Leser Fabian K.* (24) nachdenklich gemacht. «Da werden andere Personen belästigt und niemand – inklusive mir – bekommt es mit.»

Zugetragen hat sich die Situation an einer Berner Tramhaltestelle. Im Feierabendverkehr wurde es dort für die Wartenden ungemütlich. Denn: Ein angetrunkener Mann begann plötzlich damit, andere Leute zu belästigen.

Zu einer Frau sagte er «P*ssy, P*ssy», ein Schulkind schüchterte er mit wildem Gestikulieren ein.

Frau schaut Tiktoks
Wer aufs Handy starrt, kriegt oft nicht mit, was um sich herum geschieht.
Frau chillt mit Kopfhörern am See
Zusätzlich tragen viele Kopfhörer und bekommen die Umgebung auch akustisch nicht mit.
Mann trägt Airpods
Viele Kopfhörer wie Airpods filtern die Hintergrundgeräusche raus.
Tramhaltestelle Loryplatz in Bern
Die Zivilcourage ist aber nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch digital angesagt.

«Niemand griff ein», erinnert sich K. «Alle starrten auf ihr Handy und hatten Kopfhörer in den Ohren, sodass sie die Szene gar nicht erst mitbekamen.»

Auch K. realisierte die Situation erst, als diese sich bereits entspannt hatte und die Belästigten endlich ins Tram steigen konnten. «Leidet die Zivilcourage wegen Handy und Kopfhörern?», fragt er sich.

Haben Sie schon mal eine Belästigung beobachtet?

Nau.ch hat diese Frage an Fachpersonen weitergeleitet. Diese machen ähnliche Beobachtungen, finden aber an den modernen Kommunikationsmitteln nicht nur Schlechtes.

Kriminologe Dirk Baier bestätigt, dass unterwegs Musik hören oder Videos schauen zu einer Abkoppelung von der realen Welt führen kann. «Im Zweifelsfall werden dann schwierige Situationen gar nicht bemerkt. Niemand kann eingreifen, wenn es zu Übergriffen oder Ähnlichem kommt.»

Belästigte sollen auf sich aufmerksam machen

Noice-Cancelling-Kopfhörer wie Airpods, die sämtliche Hintergrundgeräusche ausblenden, würden aber Zivilcourage nicht gänzlich unterbinden. «Das Um-Sich-Blicken ist ja dadurch nicht ausgeschaltet», sagt Baier.

Zudem sieht der Experte der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) die Verantwortung nicht nur bei den Beobachterinnen und Beobachtern.

Es sei «grundsätzlich wichtig, dass sich Betroffene möglichst eindeutig für Umstehende bemerkbar machen», betont Baier.

Frau am Handy
Das Handy lenkt zwar ab, mit ihm können aber Übergriffe im öffentlichen Raum auch dokumentiert werden. - Keystone

Auch Beatrice Kübli von der Schweizerischen Kriminalprävention bestätigt einerseits, dass die Aufmerksamkeit aufgrund der Technik zunehmend leide. «Wer sich auf das Handy konzentriert und Kopfhörer benutzt, realisiert weniger, was um ihn herum geschieht.» Entsprechend daure es länger, bis eine Belästigung erkannt wird.

«Andererseits haben die immer präsenten Handys auch den Vorteil, dass eine heikle Situation aufgezeichnet werden kann», sagt Kübli zu Nau.ch

Kampfsportler beweist Zivilcourage bei Messer-Attacke in Zürich

Ein aktuelles Beispiel für Zivilcourage ist die Messerattacke auf einen orthodoxen Juden in Zürich. Ein Kampfsportler setzte gemeinsam mit zwei Freunden den 15-jährigen Messerstecher ausser Gefecht und verhinderte so Schlimmeres.

Messerattacke Jude Zürich
Anfang März wurde ein orthodoxer Jude in Zürich angegriffen und schwer verletzt.
Messerangriff Zürich
Beim Angreifer handelte es sich um einen 15-jährigen Muslimen.
Zürich Juden Attacke
Mario Fehr, Regierungspräsident und Sicherheitsdirektor des Kantons Zürich, links, informierte nach der Tat über die Sicherheitslage.
Attacke Jude Zürich
Der 15-Jährige, der einen Juden in Zürich mit dem Messer attackiert hat, soll sich in einem Video zum IS bekennen.

Man könne aber bereits mit weniger viel erreichen. Oft sei bereits eine Bemerkung, ein Blick oder eine Geste entscheidend, so Kübli von der Schweizerischen Kriminalprävention.

Sie betont: «Wer Zivilcourage zeigt, steht einem Opfer zur Seite, lässt es nicht allein und erschwert so die Attacke. Denn gegen eine Gruppe ist eine Belästigung nicht so einfach wie gegen eine einzelne Person.»

* Name von der Redaktion geändert

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