Opfer von Medi-Versuchen im Thurgau erhalten Entschädigung
Opfer von Medikamentenversuchen in der Thurgauer Psychiatrie Münsterlingen können ab Jahresbeginn eine finanzielle Entschädigung beantragen.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Opfer von den Medikamentenversuchen in Thurgau erhalten ab 2025 eine Entschädigung.
- Der Psychiater Roland Kuhn testete über 40 Jahre lang neue Substanzen an Menschen.
- Ein Betroffener kämpft bis heute mit Folgen - er spricht von einer Genugtuung.
Jahrelang hatte sich der Kanton Thurgau geweigert, die Opfer von Medikamentenversuchen in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen zu entschädigen. Erst im April 2023 stimmte das Thurgauer Kantonsparlament einer überparteilichen Forderung zu, die gesetzliche Grundlage für Entschädigungen zu schaffen.
Wie das Thurgauer Staatsarchiv nun mitteilte, tritt diese Regelung mit dem Jahreswechsel in Kraft. Ab dem 1. Januar 2025 können Betroffene demnach ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag in Höhe von 25'000 Franken einreichen. Als Beleg für die Teilnahme an den Versuchen gilt die Erwähnung einer Prüfsubstanz in der Krankenakte oder im Nachlass von Roland Kuhn.
Die Entschädigung richtet sich laut der Mitteilung an Personen, die den jahrzehntelangen Medikamentenversuchen des Psychiaters in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen ausgesetzt waren.
Da der Psychiater umfangreiche Aktenbestände aus seiner Zeit in der Klinik hinterliess, wird das Staatsarchiv den Anspruch von Betroffenen selbst prüfen. Mit anderen Worten: Betroffene müssen mit der Gesuchseingabe nicht selbst belegen, dass sie Teil der Medikamententests waren.
Über 40 Jahre neue Substanzen an Menschen getestet
Kuhn führte von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre zahlreiche Tests mit Psychopharmaka an Patienten durch, oft ohne deren Einwilligung. Trotz anfänglicher Ablehnung liess der Kanton Thurgau die Ereignisse wissenschaftlich untersuchen.
Im Abschlussbericht von 2019 legte das Forschungsteam das erschreckende Ausmass der Experimente offen: Über einen Zeitraum von rund 40 Jahren testete der Psychiater Roland Kuhn mindestens 67 neue Substanzen an mehreren Tausend Menschen.
Die meisten dieser Wirkstoffe stammten von der damaligen Firma Geigy, heute Novartis. Kuhn wird in der Medizin bis heute als «Vater der Antidepressiva» angesehen.
Betroffener: «Endlich ist es soweit»
Gegenüber dem «Beobachter» äussert sich Walter Emmisberger zu der neuen Regelung und spricht von einer Genugtuung: «Endlich ist es so weit.» Seit Jahren engagierte sich der 68-Jährige für die Aufarbeitung und die Entschädigung für die Menschenversuche. Immer wieder kontaktierte er Behörden und Politiker und forderte eine Aufarbeitung inklusive einer Entschädigung.
Vor etwa zehn Jahren entdeckte Emmisberger eher zufällig, dass auch er Teil von Roland Kuhns umstrittener Forschungsarbeit war. 1956 als Sohn einer unverheirateten Mutter im Gefängnis geboren und später fremdplatziert, begann er damals, seine Kindheit aufzuarbeiten.
Dabei stiess er in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen auf seine Patientenakte. Aus dieser erfuhr er, dass ihn seine Pflegeeltern wegen schulischer Schwierigkeiten in die Psychiatrie gebracht hatten. Dort testete Kuhn über mehrere Jahre hinweg verschiedene neue Substanzen an ihm – einige davon gelangten nie auf den Markt.
Emmisberger kämpft laut dem Bericht bis heute mit den Folgen der Medikamentenversuche. Menschenansammlungen meidet er, da sie bei ihm Panikattacken auslösen, unter denen er schon seit Jahren leidet. Für sein Engagement wurde er 2013 gemeinsam mit anderen Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen mit dem Prix Courage des «Beobachters» ausgezeichnet.