Patienten zu Medikamententests gezwungen

Nadine Brügger
Nadine Brügger

Hinterland,

Die Basler Pharma brauchte Testergebnisse, die Psychiatrische Klinik St. Urban lieferte sie: In den 1950er und 1960er Jahren wurden Patienten in St. Urban gezwungen, nicht zugelassene Medikamente zu testen.

«Unter Zwang verabreicht»

Kein Einzelfall

Betten in einer Psychiatrischen Klinik. (Symbolbild)
Betten in einer Psychiatrischen Klinik. (Symbolbild) - Staatsarchiv Zürich

Das Wichtigste in Kürze

  • In den 1950er und 1960er Jahren wurden Patienten in Schweizer Psychiatrien als Laborratten missbraucht.
  • Ohne ihr Wissen oder gar gegen ihren Willen wurden ihnen zu Testzwecken nicht zugelassene Medikamente verabreicht.
  • Die Basler Pharma stellte die Medikamente gratis zur Verfügung, die Psychiatrischen Kliniken St. Urban, Herisau, Basel oder auch Burghölzli ZH testete sie an ihren Patienten.

Sie vernehmen Stimmen, die sonst keiner hört, fühlen sich verfolgt, kämpfen gegen eine allmächtige Sucht oder sehen die Welt nur als endloses schwarzes Loch: In der Klinik St. Urban LU hoffen Menschen mit Schizophrenie oder Depression auf Heilung. Stattdessen wurden sie von den Ärzten - jenen Menschen, denen sie vertrauten - systematisch missbraucht.

In den 1950er und 1960er Jahren suchten die Basler Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche AG (heute Roche AG) und J.R. Geigy AG (heute Novartis AG) nach menschlichen Laborratten. In Luzern wurden sie fündig. Zwischen 1953 und 1963 wurden mindestens fünf noch nicht zugelassene Medikamente an Patienten getestet.

Operationstisch in einer Psychiatrischen Klinik.
Operationstisch in einer Psychiatrischen Klinik. - Staatsarchiv Zürich

«Die Ärzte in dieser Zeit massen der Einwilligung und Aufklärung der Patienten eine eher geringe Bedeutung bei. Deshalb wurden die Testpräparate möglicherweise auch unter Zwang verabreicht oder die Ärzte überredeten die Patienten zur Einnahme des Arzneimittels», sagt Historiker Urs Germann gegenüber «Schweiz Aktuell», dass mithilfe von Testberichten aus alten Ärztezeitschriften den Fall aufgedeckt hat. Erklärtes Ziel der damaligen Psychiatrie war keine Heilung, sondern ein Ruhigstellen der Patienten. Wurde dieses Ziel verfehlt, steigerte man die Dosis der Medikamente. Das hätten die Patienten von St. Urban aber nur «selten vertragen», steht in den Testberichten.

Experimente mit über 200 Patienten

Unter den 208 missbrauchten Patienten war auch ein Minderjähriger. Die fünf getesteten Medikamente, darunter auch Valium, wurden von den Basler Pharmakonzernen kostenlos zur Verfügung gestellt und später alle zugelassen. Es sei aber davon auszugehen, dass auch Medikamente getestet worden sind, die niemals eine Zulassung erreicht haben, so Germann.

Luftaufnahme der Psychiatrischen Klinik Burghölzli. Hier wurden während 30 Jahren an über 1000 Patienten Medikamente getestet.
Luftaufnahme der Psychiatrischen Klinik Burghölzli. Hier wurden während 30 Jahren an über 1000 Patienten Medikamente getestet. - Keystone

St. Urban befindet sich in bester Gesellschaft: Auch in der Zürcher Klinik Burghölzli wurden über 30 Jahre lang Medikamente ohne Zulassung getestet. Und auch die Basler Uniklinik und die Klinik Herisau experimentierten an ihren Patienten.

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