Politologe: «Diese Niederlage hat verschiedene Väter und Mütter»
Der Politologe Urs Bieri, Co-Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern, nennt mehrere Gründe für die Ablehnung der BVG-Reform bei der Abstimmung.
Der Politologe Urs Bieri, Co-Leiter des Politik- und Kommunikationsforschungsinstituts gfs.bern, sieht mehrere Gründe für das Nein zur BVG-Reform an der Urne. Dass die Vorlage zu schwer verständlich gewesen sei für das Stimmvolk, glaubt er nicht.
Keystone-SDA: Wieso scheiterte die BVG-Reform, Herr Bieri?
Urs Bieri: Damit eine politische Reform Chancen hat, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Erstens müssen Mehrheiten ein Problem attestieren, das nach einer zeitnahen Lösung verlangt. Zweitens muss die Reform eine mehrheitlich akzeptierte Lösung für dieses Problem sein. Bei der BVG-Reform scheiterte es schon an der breiten Problemwahrnehmung.
Namhafte Stimmen bestritten, dass die Finanzierungssituation bei Pensionskassen eine Senkung überhaupt nötig macht. Die falschen AHV-Zahlen waren in diesem Zusammenhang ein zentrales Schlüsselereignis während der Hauptkampagne, sie bestärkten die Zweifel gegenüber dem Problem.
Im so entstandenen Tohuwabohu verloren Zahlen und Analysen zur Fassung des Problems jeglichen Wert und damit galt schlussendlich nicht zuletzt: Wenn es kein Problem gibt, muss es nicht gelöst werden.
Was ist mit der zweiten Bedingung?
Auf der anderen Seite überwogen auch Zweifel an der Reform als Lösung. Linksgewerkschaftliche Kreise fokussierten erfolgreich auf die Aspekte der Leistungskürzung, Vertreterinnen und Vertreter von Niedriglohnbranchen bemängelten die Mehrkosten einer Senkung des Koordinationsabzugs, während eine laute Diskussion über eine ungerechtfertigte Bereicherung Pensionskassen und Lebensversicherer als Ansprechperson nachhaltig diskreditierte. Damit hat diese Niederlage verschiedene Väter und Mütter. Eine Korrektur hin zu einer mehrheitsfähigen Reform ist nicht einfach.
Wie könnte eine mehrheitsfähige Reform zustande kommen?
Sicher braucht es eine breite Diskussion zum Problem. Gibt es eine Umverteilung von Jung zu Alt wegen eines zu hohen Umwandlungssatzes? Sind Verwaltungskosten wirklich ungebührlich hoch? Und stimmt Leistungsumfang und Stossrichtung des BVG für die Bedürfnisse unserer heutigen Gesellschaft?
Diese Fragen müssen breit diskutiert werden, vor einer neuen Reform braucht es ein mehrheitliches Problemverständnis. Zudem: Es ist sicher von Vorteil, wenn das nächste Mal während eines Abstimmungskampfes keine Korrekturen an offiziellen Zahlen publiziert werden.
Wieso gelingen Reformvorhaben bei Sozialversicherungen häufig nicht oder erst im zweiten oder dritten Anlauf?
Reformen im Bereich Sozialversicherung werden hauptsächlich aus zwei Blickwinkeln beurteilt. Einerseits gilt der Blick in die eigene Betroffenheit. Was bedeutet die Reform für mich persönlich, bin ich damit bessergestellt oder schlechtergestellt? Reformen, die Mehrheiten schlechterstellen, haben es grundsätzlich schwierig. Andererseits treffen aber solche Reformen auch auf unterschiedliche Werthaltungen.
Ein liberal denkender Mensch betont vielleicht Eigenverantwortung stärker, während eine sozialdemokratisch denkende Person Solidarität und Umverteilung von Reich zu Arm in den Vordergrund stellt. Damit eine Reform bei Sozialversicherungen erfolgreich ist, muss sie auf beiden Ebenen einen tragfähigen Kompromiss erreichen: vertretbare individuelle Folgen und eine mehrheitlich akzeptierte Mischung zwischen Umverteilung und Eigenverantwortung. Das ist schwierig.
Im Abstimmungskampf um die BVG-Reform wurde wohl besonders häufig der Vorwurf geäussert, die gegnerische Seite operiere mit falschen Zahlen. Braucht es eine Instanz, welche solche Aussagen überprüft?
Die Bundesverfassung garantiert, dass jeder Stimmbürger und jede Stimmbürgerin in einer Abstimmung seinen freien Willen äussern kann und die Meinungsbildung im Abstimmungskampf dies ermöglichen muss. Gemäss Bundesgericht haben die Behörden durchaus die Aufgabe, falsche oder irreführende Äusserungen zu korrigieren, in seltenen Fällen sind sie sogar dazu verpflichtet.
Das Bundesgericht hält aber auch fest, dass das Recht zur freien Meinungsäusserung auch während Abstimmungskampagnen gilt; dieses Recht beinhaltet auch die Äusserung von falschen Zahlen. Zentral ist die Frage: Sind die Stimmberechtigten in der Lage, aufgrund aller vorliegenden Informationen während eines Abstimmungskampfs eine Meinung zu bilden, die ihren Bedürfnissen entspricht, und können sie dabei Fakten von Behauptungen unterscheiden?
Trifft dies zu?
Die Rechtsprechung, wie auch die Politikforschung, geht davon aus, dass dies in den meisten Fällen gelingt. Die Flut an Zahlen mit mehr oder weniger hoher Qualität war aber bei der Abstimmung zur BVG-Reform bemerkenswert, sie führte zu einem Nein-Reflex, welcher die Ablehnung an der Urne sicher miterklärt. Weitergehende Regeln würde es dann brauchen, wenn der Zahlensalat in Zukunft nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist.
Halten Sie die BVG-Reform zu kompliziert für eine Volksvorlage?
In der Schweiz kommen seit Beginn des modernen Bundesstaates immer wieder komplizierte Vorlagen zur Abstimmung, das ist das Wesen von direktdemokratischen Entscheidungen. Wir haben über einen EWR-Vertrag diskutiert und abgestimmt, der 300 Bundesordner füllte. Ich vermute, die Problematik hinter der Biodiversitätsinitiative ist mindestens so komplex wie die BVG-Reform.
Die Schweizer Stimmbürger und Stimmbürgerinnen haben in den letzten über hundert Jahren ein Instrumentarium entwickelt, wie sie politische Entscheidungen treffen können, ohne eine Sachvorlage im Detail zu verstehen. Sie nutzen Parteiparolen, Oppositionsstimmen oder Behördenkommunikation und informieren sich gezielt entlang der eigenen Werthaltungen und Interessen. Wenn für jemand Solidarität besonders wichtig ist, wird diese Person besonders nach Informationen suchen, welche den Solidaritätsaspekt in einer politischen Vorlage beleuchten oder einfach auch nur schauen, was die Parole der SP ist. Wenn jemand finanziell betroffen ist, will er oder sie wissen, wie hoch die finanzielle Betroffenheit ist.
Verschiedene politische Akteure bereiten diese Informationen vor und strukturieren die wichtigen Konfliktlinien im Abstimmungskampf. Das ist immer zusammengefasst, verdichtet und vielleicht manchmal arg vereinfacht. Wenn ich als Stimmbürger aber weiss, welche Partei in dieser Sache die gleichen Werte wie ich vertritt, ist meine Irrtumswahrscheinlichkeit klein, wenn ich einfach die entsprechende Parteiparole beachte.
Also sind die Meinungen meistens schon gemacht?
In seltenen Fällen kann es trotz dieser Abkürzungen zu Schwierigkeiten in der Entscheidfindung kommen. Das ist dann der Fall, wenn von lauter Stimmen und Zahlen dafür und dagegen nicht mehr klar ist, wer was warum sagt respektive was eigentlich gilt. In diesen Fällen gelingt es den politischen Akteuren nicht mehr, ihre Positionen sichtbar zu machen und den Medien nicht mehr, den Diskurs zu strukturieren und aufzuzeigen.
In diesen Fällen entstehen dann immer wieder Diskussionen, ob es Vorlagen gibt, die für das Volk zu kompliziert sind. Ich finde diese Diskussion verheerend, weil sie bedeutet, dass man nur noch einfache Lösungen bauen darf oder das Volk besser entmachtet wird. Wer sich den Erfolg unserer direktdemokratischen Instrumente für die politische Stabilität und den Zusammenhang des Landes vor Augen führt, wird beides ablehnen. Aus meiner Sicht ist das gerade bei der BVG-Vorlage auch einfach die falsche Frage.
Was wäre dann die richtige Frage?
Die richtige Frage ist vielmehr: Warum gelang es Politik und Medien nicht, das zu lösende Problem sowie die verschiedenen Facetten der Lösung aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen? Aus meiner Sicht scheiterte dies schon daran, dass die Problembeurteilung seitens Politik und Fachexpertinnen und -experten unglaublich vielschichtig ist.
Und da stellt sich dann schon die Frage: Wenn sich schon Expertinnen und Experten dermassen uneinig sind, warum sollte das Stimmvolk dann zustimmen? Das Nein hier scheint mir eher ein Auftrag aus der Bevölkerung an die Politik und Expertenkreise, das Problem sichtbarer zu machen und besser zu erklären, was mögliche Lösungen sind.
Dann kann das Volk auch einen Entscheid treffen. Das klappt seit 176 Jahren meist hervorragend. Wenn es hier für einmal nicht gelungen ist, ist das Problem vielleicht auch einfach noch nicht fertig diskutiert.