So lernen Flüchtlinge Schweizer Gender-Rollen
In der Schweiz erhalten Flüchtlinge Kurse, bei denen sie über Schweizer Gender- und Sexualitätsthemen informiert werden. Was sie dabei lernen.
Das Wichtigste in Kürze
- Viele Asylsuchende sind aus frauenfeindlichen Regimes geflüchtet.
- In der Schweiz erhalten sie Kurse zum Thema Gleichberechtigung.
- Ein Experte fordert mit Blick auf die Belästigungsstatistik auch Kurse für Schweizer.
Fast überall auf der Welt erfahren Frauen Diskriminierung. Je nach Land sind die Ausmasse unterschiedlich – teils kommt es gar zu massiver Gewalt durch den Staat.
Einige Beispiele: Vor zwei Jahren starb die 22-jährige Jina Mahsa Amini im Iran, nachdem sie von der Sittenpolizei verhaftet wurde. Sie wurde wahrscheinlich zu Tode geprügelt.
In Afghanistan kamen die islamistischen Taliban 2021 erneut an die Macht. Seither haben sie neue Gesetze eingeführt, um Frauen zu unterdrücken.
Die Gewalt gegen Frauen nimmt derweil in der Türkei stetig zu. Ein Grund ist der konservative Präsident Erdogan. Er demontiert zunehmend Gesetze, die Frauen schützen.
Und in Eritrea ist weibliche Genitalverstümmelung weitverbreitet. Laut einem Bericht der deutschen Organisation Frauenrechte sind 83 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren betroffen.
Sexuelle Belästigung: «Migranten häufiger Täter»
Afghanistan, die Türkei und Eritrea sind die Herkunftsländer, aus denen besonders viele Menschen in die Schweiz flüchten.
Der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zufolge kam 2023 über die Hälfte aller Asylsuchenden aus diesen drei Staaten.
Kurz: Viele Menschen in Schweizer Asylheimen sind aus Umfeldern geflüchtet, in denen Frauen mehr Diskriminierung erleben als in der Schweiz.
Solche Prägungen wirken sich hierzulande auch auf die Statistiken zu sexueller Belästigung aus. Tatpersonen sind zwar viele Schweizer – aber auch auffallend oft Männer mit Migrationshintergrund.
Kriminologe Dirk Baier sagt zu Nau.ch: «Personen ausländischer Herkunft treten circa doppelt so häufig als Tatperson in Erscheinung, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht.» Das zeigen sowohl kriminalstatistische Daten als auch Befragungsstudien.
«Insofern gilt: Migranten sind häufiger Täter.»
Männer verhalten sich wegen «Machonormen» daneben
Weitere Faktoren, die die Zahlen laut der Schweizerischen Kriminalprävention begünstigen: «Frühe Verheiratung, finanzielle Probleme, ungünstige Wohnsituationen, Arbeitslosigkeit und tiefer sozialer Status.»
Baier sieht auch kulturelle Gründe. «In verschiedenen Herkunftsgruppen finden sich Männlichkeitsbilder und Machonormen, die Männer dazu bringen, sich unangemessen gegenüber Frauen zu verhalten.»
Dieses Dominanzgebaren müsse gesellschaftlich bekämpft werden, sagt Baier. «Auch bei Schweizer Männern, die ja immerhin die Hälfte der Tatpersonen stellen.»
Zürich meldet alle Geflüchteten für Kurse an
Tatsächlich gibt es schweizweit Kurse für geflüchtete Männer und Frauen, die das Thema Genderrollen behandeln. Meist sind sie sogar obligatorisch.
Die Organisation Caritas, die in verschiedenen Kantonen mit Flüchtlingen arbeitet, ist damit bestens vertraut.
Ein Beispiel ist das Durchgangszentrum Sihlau im Kanton Zürich. Dort ist die Organisation unter anderem für die Integration geflüchteter Menschen zuständig, wie Sprecherin Daria Jenni zu Nau.ch sagt.
Sie erklärt: «Jede asylsuchende Person in Zürich wird für einen Kurs angemeldet, in dem ihr ein Verhaltenskodex für die Schweiz vermittelt wird. Er beinhaltet auch die Gleichstellung der Frau und Gewalt gegenüber Frauen.»
LGBT-Pärli und berufstätige Mütter Teil des Lehrplans
Durchgeführt werden die Kurse von der Asylorganisation Zürich (AOZ).
Sprecherin Silvia Weigel erklärt bei Nau.ch: «An einem der Kurstage geht es um Geschlechtergleichstellung, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Konkubinat, Patchwork-Familie und so weiter. Es werden gesellschaftliche Normen, Werte und Gesetze besprochen.»
Die Kurse seien workshopartig. «Es gibt Inputs, Diskussionen und Gruppenarbeiten.»
Im Kanton Aargau gibt es ebenfalls solche Kurse, wie Sandra Olar vom zuständigen Departement zu Nau.ch sagt.
Teil des Lehrplans: «Es wird verdeutlicht, dass auch vielfältige Familienmodelle gelebt werden. So gibt es beispielsweise Familien, in denen der Vater die Hauptverantwortung für die Kindererziehung übernimmt, während die Mutter berufstätig ist.»
Zudem werde vermittelt, dass LGBT-Partnerschaften akzeptiert seien. Und «dass keine Berufe ausschliesslich für ein bestimmtes Geschlecht reserviert sind».
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) bietet online zudem Unterlagen für Geflüchtete, die über das Leben in der Schweiz aufklären. Darunter sind auch Informationen zu Gender und Sexualität.
«Gibt auch Themen, die anfangs auf wenig Verständnis stossen»
Auch das Thema sexuelle Gesundheit behandeln die Kurse. Olar erklärt: «Es werden kurz die Aspekte Verhütung und Einvernehmlichkeit in intimen Beziehungen angesprochen.»
Dabei erklären die Kursveranstalterinnen und -veranstalter den Geflüchteten die rechtliche Lage: «(Sexuelle) Gewalt ist auch innerhalb der Ehe nicht zulässig und jegliche Form von häuslicher Gewalt ist eine Straftat.»
Im Kanton Bern, wo es ebenfalls solche Kurse gibt, zeigt die Erfahrung laut Sprecher Gundekar Giebel: «Sexuelle Themen sind oft schambehaftet und es ist für viele Personen schwierig, darüber zu sprechen.»
Gewisse Themen würden «anfangs auf wenig Verständnis stossen: etwa Lohngleichheit oder die Gleichstellung von Mann und Frau», sagt Giebel.
Welchen Personen es leichter fällt, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, sei abhängig «von Herkunft und Familienkultur».
Zentrum verteilt Geld separat, wenn Frau keine Mitsprache erhält
Neben den Kursen ist Gleichstellung in den Asylheimen auch im Alltag Thema, wie Caritas-Sprecherin Jenni erklärt. «Sie wird auch insbesondere vom Team im Zentrum vorgelebt.»
Zudem werden Ämtli im Durchgangszentrum Sihlau ZH «geschlechterneutral verteilt».
«Bei der Geldauszahlung an die Familien wird darauf geachtet, dass beide Elternteile Zugriff und Mitsprache über die Verwendung haben. Ansonsten wird eine getrennte Auszahlung veranlasst.»
Im Kanton Schwyz, wo die Caritas mehrere Zentren für Geflüchtete führt, achtet sie auch auf Kontakt mit der Bevölkerung.
«Die aktive Mitgliedschaft in Sport- oder Kulturvereinen ist ein wichtiger Aspekt für die Integration», sagt Jenni.
Die Behörden und Organisationen ziehen ein positives Zwischenfazit: Die Geflüchteten hätten grosses Interesse an den Kursen, sagt Gundekar Giebel vom Kanton Bern.
Sie würden grundsätzlich auf «recht viel Toleranz und Zustimmung» stossen.
Experte fordert Kurse auch für Schweizer
Trotz der Massnahmen im Asylbereich: Kriminologe Dirk Baier sieht Luft nach oben.
Da es sich gerade bei Belästigung generell um ein Männerproblem handelt, fordert er «auf junge Männer gerichtete Präventionsansätze».
Die Massnahmen sollten sich nicht nur auf neu zugewanderte Personen beziehen, findet er.
«Es ist sicherlich richtig, dass in den Flüchtlingsunterkünften auch zum Thema Gleichstellung gearbeitet wird. Aber genauso gehört das Wissen um dieses Thema in jede Schule, in jede Klasse.»