Über 1000 Fälle – darum ist Missbrauch in der Kirche so verbreitet
Historiker belegen 1002 Fälle des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Weshalb ist Missbrauch in der Kirche so verbreitet? Experten ordnen ein.
Das Wichtigste in Kürze
- Forschende weisen in der katholischen Kirche 1002 Fälle des sexuellen Missbrauchs nach.
- Die Frage nach den Ursachen ist komplex – ein Theologe und ein Kriminologe ordnen ein.
- Neben dem Zölibat stehe eine Kultur des Täterschutzes am Ursprung der Missbrauchsfälle.
Erneut sorgt die katholische Kirche für Schlagzeilen – das Spektrum reicht von problematischen Grenzüberschreitungen bis hin zu systematischem Missbrauch: Ein Team von Historikern hat seit 1950 rund 1000 Fälle des sexuellen Missbrauches nachgewiesen.
Eine erste Analyse von Geheimarchiven römisch-katholischer Institutionen bringt Schockierendes zutage: Insgesamt konnten die Historiker 510 Beschuldigte identifizieren – grossmehrheitlich Priester. Rund 56 Prozent der 921 Betroffenen sind männlichen Geschlechts, alarmierende 74 Prozent davon waren zum Tatzeitpunkt minderjährig.
Die Frage nach den Ursachen
Üblicherweise steht im Fahrwasser solcher Enthüllungen auch der Zölibat für katholische Geistliche in der Kritik: Existiert ein Zusammenhang zwischen der Ehelosigkeit von Priestern und der alarmierenden Prävalenz von Fällen des sexuellen Missbrauches?
Religionsexperte Georg Schmid von «Relinfo» betont gegenüber Nau.ch: Es gebe deutliche Hinweise dafür, dass der Zölibat wenigstens bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine anziehende Wirkung auf Männer entfaltete, die sich zu Minderjährigen hingezogen fühlten. «Der Zölibat war die ideale Legitimation für ein eheloses Leben.»
Kultur des Täterschutzes
Kriminologe Dirk Baier teilt diese Einschätzung: Er sieht den Zölibat ebenfalls als möglichen Bedingungsfaktor des sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche.
Gleichzeitig gibt Baier zu bedenken, dass die Diskussion zu kurz greife, wenn sie sich auf diesen Aspekt beschränke: «Sexuellen Missbrauch gab und gibt es auch ausserhalb der katholischen Kirche. Der Grossteil der katholischen Geistlichen hat sich ausserdem nicht übergriffig verhalten.»
Dem stimmt auch Religionsexperte Schmid zu, der ebenfalls auf Missbrauchsskandale ausserhalb christlicher Gemeinschaften verweist. Die Problematik sei dabei stets dieselbe: «Missbrauch wird vertuscht, Täter versetzt, Anzeigen bei der Polizei verhindert.»
Überdies verortet Schmid auch das Sozialprestige des Priesterberufs am Ursprung der Problematik: «Kritik an einem Priester erschien katholischen Laien weitgehend undenkbar. Das ermöglichte Missbrauch.»
Beide Experten sind sich einig – der Zölibat alleine könne das Problem nicht ausreichend erklären. Baier führt aus: «Das Problem ist vielmehr, wenn sich in Teilen einer Kirche oder einer Organisation eine Kultur des Schutzes von Tätern etabliert.»
Regelungen zum Schutze der Institution
Die katholische Kirche sehe sich nicht dem weltlichen Recht unterworfen, erklärt der Kriminologe: «Stattdessen hat die Kirche eigene Regelungen im Umgang mit Vergehen entwickelt.» Diese Regelungen zielten oft nicht darauf ab, Verbrechen bestmöglich aufzuklären, sondern das Fortbestehen der Kirche als Institution zu sichern.
Baier fasst zusammen: «Es sind für mich daher kulturelle und strukturelle Merkmale der Kirche, die Übergriffe motivieren – nicht alleine der Zölibat.» Er bestreite nicht, dass es auch Personen gebe, die sich absichtsvoll der katholischen Kirche anschliessen, um Kinder zu missbrauchen. «Die Mehrheit der Taten ist aber den Strukturen geschuldet.»
Die Spitze des Eisbergs?
Zu diesem Schluss kommen auch die Studienautoren: Obwohl das Kirchenrecht den sexuellen Missbrauch seit Langem als schwerwiegenden Tatbestand festhält, wurde es über weite Strecken kaum angewandt. «Stattdessen wurden zahlreiche Fälle verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert», erklären die Forschenden.
Ein grundsätzlicher Wandel dieser Praxis sei erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts allmählich feststellbar. Entsprechend stelle das Pilotprojekt lediglich einen ersten Schritt zur Aufklärung dar: «Bei den identifizierten Fällen handelt es sich zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs», erklären die Forschenden. Um das gesamte Ausmass zu erfassen, wird weitere Forschung nötig sein.