Gastbeitrag: Der freie Wille ist die fast perfekte Illusion

Felix Roth
Felix Roth

Bern,

«Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will», konstatierte einst Arthur Schopenhauer. Freidenker Felix Roth stimmt zu.

Junge Frau
Eine junge Frau denkt nach. - Pixabay

Das Wichtigste in Kürze

  • Kann jeder Mensch frei über seine Taten entscheiden?
  • Die Kirchen argumentieren damit, schreibt Felix Roth im Gastbeitrag.
  • Doch der freie Wille sei nur eine fast perfekte Illusion.

Machen wir ein kleines Experiment. Setzen Sie sich aufrecht auf einen Stuhl und warten Sie auf den nächsten Gedanken. Dann fragen Sie sich, woher dieser kommt. Nehmen Sie sich Zeit.

Sie werden entdecken, dass Sie nicht entscheiden können, welcher Gedanke als nächster auftauchen wird. Denn dieser kommt aus der Theaterbühne Ihres Hirns. Soll das Experiment ein Beweis sein? Nein, aber ein Einstieg zum Abenteuer: Der freie Wille ist die fast perfekte Illusion.

Kirche Coronavirus
Der Blick in eine Kirche. (Symbolbild) - Pixabay

Der Begriff des freien Willens impliziert, dass jeder und jede eine Entscheidung auch anders hätte fällen können — wenn er oder sie nur gewollt hätte. Genau damit argumentieren Kirchen. Denn ohne freien Willen fällt das Konstrukt von Schuld, Rache und Sühne der Religionen zusammen.

Und genau damit argumentiert teilweise auch noch die Rechtssprechung. Immerhin von der Rache und Sühne hat sie sich in gewisser Weise bereits entfernt: Therapieangebote und die Hoffnung auf Erfolg von Integrationsmassnahmen müssen nicht zwingend mit einem freien Willen verbunden sein.

Kein freier Wille? Sollten wir uns davor ängstigen?

Ist also alles vorbestimmt? Nein, es fällt uns einfach zu, in welchen Cluster wir geboren werden, wer unsere Erzeuger waren, was diese erlebt oder erlitten haben, welchen anderen Genpools von Mitmenschen, Haus- und Wildtieren wir sonst noch ausgesetzt sind, welche Glaubenssätze Einfluss hatten, welche Umweltfaktoren auf uns gewirkt haben, welche Freuden und Leiden uns passierten und so weiter.

Alle diese Einflüsse machen uns zwar einzigartig, wir haben uns dabei aber nicht ein einziges Mal entscheiden müssen. Leben ist schlicht Zufall — auch, wenn es unsere Selbstdarstellung beleidigen mag.

Es gibt Menschen, deren Pech es ist, mit einem Set von Umständen geboren worden zu sein und leben zu müssen, die sie für die Gesellschaft zur ständigen Gefahr werden lassen. Sie werden zum Schutz der Gesellschaft kontrolliert — solange, bis sich eine Situation ergibt, welche sie wieder zum Leben in der Gesellschaft befähigt.

Das kann mithilfe neuer Therapien, Medikamente oder Angebote geschehen. Und im Kleinen kann auch eine Strafe durchaus Sinn für den zukünftigen Weg machen. Was es aber nicht braucht, ist eine «Rache der Gesellschaft», weil der Täter es doch anders hätte machen können, wenn er doch nur den Willen dazu hätte.

Yvan Colonna
Yvan Colonna wurde im Gefängnis lebensgefährlich verletzt (Symbolbild). - Keystone

Heisst das nun, dass wir die Gesetze unserer Gesellschaft vergessen können? Auch hier: Ganz im Gegenteil, wir stellen sie auf die nachhaltige Basis des kontinuierlichen gemeinsamen Zugewinns an Erkenntnissen. Es ist unserer Zivilgesellschaft mehr gedient, wenn wir kollektiv mit dem Ungewissen leben lernen als mit festen Vorstellungen. Wenn also etwas statt «richtig oder falsch» eher «geeignet oder ungeeignet» ist.

Ich meine, es könnte auch für Opfer von Verbrechen einen geeigneteren Zugang zur Verarbeitung der Geschehnisse sein, wenn wir von der Vorstellung des «freien Willens» wegkommen. Denn, wie auch Michael Schmidt-Salomon in seinem Buch «Entspannt euch - eine Philosophie der Gelassenheit» schreibt:

«Wir empfinden jede Schandtat als noch sehr viel schändlicher, wenn wir unterstellen, dass sie aus ‹freien Stücken› erfolgt ist, das heisst, wenn wir sie dem vermeintlich ‹ursachenfreien Willen› eines Täters zuschreiben – statt einem komplexen Wechselspiel von Milliarden und Abermilliarden Wirkfaktoren, die zu dieser Tat geführt haben.»

Jede unserer Entscheidungen ist einzigartig und bedient unsere Illusion von Selbstbestimmung. Ich lerne zunehmend damit zu leben. Und finde es ganz entspannend.

***

Wer sich fürs Thema interessiert, dem seien auch die Podcasts von Sam Harris empfohlen oder das Buch des deutschen Philosophen Michael Schmidt-Salomon: «Entspannt euch! Eine Philosophie der Gelassenheit».

Zum Autor: Felix Roth ist aktives Mitglied der Regionalgruppe Zürich der Freidenkenden. Er gilt als Förderer von jungen Unternehmern, Vielleser und Punkteverbinder.

Felix Roth
Der Autor dieses Gastbeitrags: Felix Roth. - zVg

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