Gastbeitrag: Reden wir über Tote
Der Gedanke an ein Wiedersehen mit einem Verstorbenen im Himmel kann schön sein. Was, wenn man nicht an einen Himmel glaubt? Ein Gastbeitrag von Simone Krüsi.
Das Wichtigste in Kürze
- Simone Krüsi ist Leiterin Kommunikation der Freidenker-Vereinigung der Schweiz (FVS).
- Auf Nau.ch sinniert sie, worin atheistische Menschen Trost finden, wenn jemand stirbt.
«Ich begegne den Verstorbenen lieber im Diesseits», meinte neulich eine gute Freundin zu mir. Und nein, sie ist kein spirituelles Medium oder dergleichen.
Im Gegenteil. Wir unterhielten uns gerade darüber, worin Menschen Trost finden, die eben nicht an ein Wiedersehen im Jenseits glauben.
Reden wir über Tote
Trost brauchen wir alle, wenn wir dem Tod begegnen. Auch vorauseilenden Trost. Nur schon der Gedanke an den Tod – den eigenen oder den eines geliebten Menschen – löst bei vielen von uns Ängste aus. In beiden Fällen mag die Aussicht auf ein Wiedersehen im Himmel beruhigend sein. Doch eben: Was, wenn man nicht an einen solchen Himmel glaubt?
Meine Freundin erzählte mir, wie der Vater ihres Mannes unvermittelt starb. Nur kurz, nachdem sie und ihr Mann sich kennengelernt hatten. Ein Treffen mit dem Vater hatten sie mehrmals verschoben, in der Annahme, es bliebe noch Zeit. Dem war nicht so.
«Natürlich waren wir darüber sehr traurig und empfanden Reue über die verpasste Gelegenheit», meinte meine Freundin. «Doch in der Zeit nach seinem Tod und bis heute ist er so präsent, dass ich kaum glauben kann, ihn nie kennengelernt zu haben.»
Erinnerung oder Vorstellung?
Ihr Mann hatte dem Vater nach dessen Tod mit seinen Anekdoten Gestalt verliehen, ein Gesicht gegeben. Und dieses gezeichnete Bild erwachte für meine Freundin schliesslich zum Leben.
Bestimmt kommt Ihnen das bekannt vor: Sie erinnern sich an ein Erlebnis, doch plötzlich beginnen Sie zu zweifeln. Erinnern Sie sich tatsächlich – oder haben Ihnen Eltern oder Bekannte die Geschichte bloss so oft oder so gut erzählt, dass Sie nur meinen, sich zu erinnern? Erinnerungen beginnen sich mit Vorstellungen zu vermischen.
Teil unserer Realität
Meiner Zwillingsschwester und mir passiert es bis heute, dass wir uns um Erinnerungen fast streiten: Beide können felsenfest davon überzeugt sein, dass sie selbst Protagonistinnen eines bestimmten Erlebnisses waren.
Klar ist: Eine von uns beiden täuscht sich. Klar ist aber auch: Für uns beide gehört die jeweilige Geschichte zum Leben.
Erinnerungen sind dynamisch. Sie wachsen mit uns mit, sie verändern sich. Während die einen verblassen und wir sie zurücklassen, schmücken wir andere weiter aus. Erinnerungen sind, obschon teils Fiktion, Teil unserer Realität.
Die Beziehung lebt weiter
Und genau deshalb kann das Erinnern der Verstorbenen so tröstlich sein. Indem wir uns die Menschen, die uns fehlen, vergegenwärtigen, leben sie mit uns mit. Sie rufen Gefühle in uns hervor. Natürlich empfinden wir Trauer und Schmerz. Aber Erinnern endet oft auch in einem Schmunzeln.
Unsere Beziehung mit den Verstorbenen bleibt bestehen. Mehr noch, sie entwickelt sich sogar weiter, zusammen mit unseren Erinnerungen, die sich im Laufe der Jahre verändern.
Und wenn diese Beziehung auch etwas einseitig ist, so findet sie doch immerhin jetzt statt – und nicht in einem entfernten Jenseits, auf dessen Existenz ich mich lieber nicht verlassen mag.
Zur Autorin: Simone Krüsi ist Leiterin Kommunikation bei den Freidenkenden Schweiz. Sie studierte Germanistik, Ethnologie und Balkanwissenschaften an den Universitäten Freiburg i. Üe., Zürich und Wien.
Als freischaffende Journalistin verfasst sie Reportagen aus Ex-Jugoslawien und aus der Schweiz, vorwiegend zu Themen wie zivilgesellschaftlichem Engagement und Migration.
Die Freidenkenden Schweiz treten ein für eine weltlich-humanistische Ethik, in der die Menschenrechte eine zentrale Rolle einnehmen. Sie engagieren sich für die Anliegen von konfessionsfreien Menschen und vertreten ein wissenschaftlich plausibles Weltbild.