Marianne Binder (Mitte) ruft am 1. August zur Solidarität auf
Freiheit trägt einen Preis. Denjenigen der Solidarität, findet Marianne Binder (Mitte/AG) in ihrem Gastbeitrag zur 1. August-Feier.
Das Wichtigste in Kürze
- Freiheit ist einer der Grundwerte der Schweiz.
- Für diese muss aber gekämpft werden, argumentiert Marianne Binder.
- In dem Gastbeitrag erklärt die Nationalrätin, dass Neutralität alleine nicht schützt.
Meine Eltern erlebten als Kinder den Zweiten Weltkrieg. Eine Zeit, beherrscht von der Bedrohung, die deutsche Wehrmacht würde auch bei uns einmarschieren.
Eine Zeit, in welcher die Schweiz umringt war von Ländern, die Hitlerdeutschland bereits unterworfen waren oder verbündet wie das faschistisch regierte Italien. Eine Zeit, in der das Essen rationiert wurde, die Frauen Familie und Betriebe managten und die Männer Aktivdienst leisteten.
Unser Land blieb glücklicherweise von der bevorstehenden Besatzung verschont, weil die alliierten Streitkräfte, zu denen damals auch die Sowjetunion gehörte, 1945 Europa befreiten.
Für Freiheit muss gekämpft werden
Die Bundesfeiern meiner Jugend waren denn auch geprägt vom Thema Freiheit. Wie dankbar wir sein könnten, in Freiheit zu leben. Freie Schweizerinnen und Schweizer zu sein. Freiheit sei kein selbstverständliches Gut. Etwas, worum man immer wieder kämpfen müsse.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod als in der Knechtschaft leben. Schiller fehlte nie. Ich sagte jeweils zu Hause, pubertierend und genervt: «Jetzt haben wir es dann langsam gehört mit dieser Freiheit.»
Denn diese war 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg für uns selbstverständlich geworden, als gäbe es darauf ein Abonnement. Zwar waren die Szenarien des Kalten Krieges für unsere Generation bedrohlich, die Sowjetdiktatur allgegenwärtig, aber 1989 fiel die Mauer und Francis Fukuyama rief das Ende der Geschichte aus.
Der Liberalismus und die Selbstbestimmtheit hatten gesiegt. Wozu eine Armee? Die Zeit der Panzerschlachten sei definitiv vorbei. Das wussten vor allem die «Sicherheitsexperten» der GSoA. Die neuen Bedrohungen seien ausschliesslich andere. Cyber und so weiter …
Pazifismus als Argument gegen Munitionslieferung ist zynisch
Ende Februar 2022 ist Russland erneut in ein unabhängiges freies europäisches Land eingefallen mit Panzern, Drohnen, Minen, Kampfflugzeugen und Raketen. Also mit Waffen, nicht Wattebällen! Dies an diejenigen gerichtet, welche der Ukraine aus pazifistischen Gründen die Weitergabe bereits gelieferter Schweizer Munition zur Verteidigung verweigern. Man sei aus Prinzip gegen Waffen. Das ist, mit Verlaub, zynisch.
Denn seit Februar 2022 richtet Russland in der Ukraine eine unfassbare Zerstörung an bei völliger Missachtung des Völkerrechts und der Menschenrechte. Der Beschuss des historischen Zentrums von Odessa reiht sich gerade ein in die jüngsten Verbrechen des russischen Regimes. Seit Ende Februar 2022 kämpfen die Menschen in der Ukraine um diejenige Freiheit, die wir am 1. August für uns als selbstverständlich monieren.
Schillers Pathos für die Freiheit, «lieber den Tod, als in der Knechtschaft leben», ist in der Ukraine nicht abstrakt, sondern bittere Wirklichkeit. Und wer für die Ukraine diese Freiheit in Frage stellt, soll bitte überlegen, was am Anspruch der Schweiz darauf denn legitimer ist.
Ich wünsche mir eine Schweiz, die ihre Freiheit und Unabhängigkeit bewahren kann. Dies im Bewusstsein, dass beides keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern Errungenschaften, die unser Land nicht lediglich sich selbst, sondern vor allem auch anderen verdankt.
Neutralität allein schützt nicht
Die jüngere Geschichte Europas hat gezeigt, wie verletzlich Demokratien sind und welchen Einsatz es brauchte und braucht, dass wir seit bald 80 Jahren in noch nie dagewesener Freiheit und Selbstbestimmtheit leben konnten. Der Einsatz der Alliierten gegen Hitlerdeutschland hat die Schweiz 1945 davor bewahrt, so wie sozusagen alle europäischen Länder vor ihr, unter die Nazidiktaur zu fallen.
Die Neutralität alleine – wie auch immer die Schweiz diese auslegte und später auch schmerzhaft aufarbeiten musste – hätte sie nicht geschützt. Sonst hätte es keine Abwehrdispositive gebraucht, die mit dem Angriff der Achsenmächte rechneten.
Eine davon war die vordringliche Verteidigung des Alpenraumes mit vorgeschobenen Stellungen im Mittelland und im Jura, um diese Gebiete nicht völlig sich selbst zu überlassen. Wer Zweitwohnungen in der Innerschweiz hatte, erwog den Umzug.
Schweiz muss sich positionieren
Die Schweiz hatte gleich zweifach Glück, nämlich erstens, dass die alliierten Streitkräfte Europa von der Nazidiktatur befreiten, und zweitens, aufgrund der geografischen Lage, indem unser Land nicht unter den Herrschaftsbereich der Sowjetunion fiel, die ihre «befreiten» Gebiete gleich der nächsten Diktatur unterwarfen.
Als Kind des Kalten Krieges, welches eine Mauer quer durch Europa erlebte – wer vom Osten in den Westen flüchten wollte, wurde daran erschossen –, bin ich entsetzt über die neuerliche Attacke eines Stalinerben auf ein freies Land in Europa.
Die Schweiz, die ihre Freiheit dem Schutzwall anderer verdankt, darf die Neutralität nicht so interpretieren, sich nicht klar auf die Seite des Rechtes zu stellen, und der Bundesrat hat gemäss Artikel 184 Absatz 3 der Bundesverfassung im Interesse der Schweiz danach zu handeln. Das heisst, solidarisch sein, im eigenen Interesse. Tut er es nicht, fällt uns das Verhalten der Schweiz auf die Füsse.
Ukraine-Krieg: Demokratie und Freiheit stehen auf dem Spiel
Dies an gewisse politische Exponenten gerichtet, welche die Isolation der Schweiz vorantreiben in nebulösen Beschwörungen von Neutralität. Wir gehören zur westlichen Werte- und Sicherheitsarchitektur. Wir wären bei einem Angriff nicht in der Lage, uns zu verteidigen ohne die Hilfe von anderen, ausser, wir stocken das Armeebudget um ein x-Faches auf. Dass dies politisch unrealistisch ist, wissen diese Exponenten selbst.
Damit meine ich nicht, dass wir unsere Neutralität aufgeben sollten und die guten Dienste. Doch wenn Neutralität so verstanden wird, dass sie Recht und Unrecht gleichsetzt, widerspricht sie der Rolle und dem Ansehen der Schweiz in der internationalen Gemeinschaft. Dieser neuerliche Krieg in Europa ist ein Krieg zwischen Demokratie und Freiheit. Der Freiheit gegenüber kann man nicht neutral sein.
Möge ein guter Stern über allen stehen, die diese Freiheit bewahren. Es ist auch die unsrige. Solidarität ist der Preis für die Freiheit. Ein Schweizer Spezialabonnement auf Freiheit ohne Solidarität gibt es nicht. Ich wünsche allen eine schöne Bundesfeier.