Weizenkrise und Hunger: «Afrika kann selbst Getreide anbauen»
Kelsang Kone vom Schweizer Hilfswerk Menschen für Menschen schreibt im Gastbeitrag über die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Afrika und was möglich wäre.
Das Wichtigste in Kürze
- Wegen des Ukraine-Kriegs kann weniger Weizen in die armen Länder Afrikas geliefert werden.
- Am Horn von Afrika herrscht grosse Trockenheit.
- Millionen Menschen hungern. Kurzfristig brauchen die Familien Nothilfe.
- Langfristig muss die afrikanische Landwirtschaft angekurbelt werden.
- Die Stiftung Menschen für Menschen zeigt im Gastbeitrag Wege zu erstaunlichen Ernten.
Mit dem Beginn des Ukraine-Krieges schoss der Weizenpreis an den Weltmärkten zeitweise um bis zu 70 Prozent in die Höhe. Russland verhängte einen Exportstopp für das Brotgetreide. Die Ukraine kann gelagertes Korn nicht mehr über das Schwarze Meer ausführen.
Der Krieg verhindert oder hemmt den Ackerbau vielerorts. Auch das teure Erdgas beeinflusst Anbau und Ernte weltweit, weil es für die Düngerproduktion gebraucht wird. Experten rechnen damit, dass das globale Weizenangebot in diesem Jahr um rund 20 Prozent einbricht.
Die Menschen in der Schweiz brauchen sich nicht um ihr Brot zu sorgen. Den Grossteil des benötigten Weizens produziert das Land selbst. Lediglich 2 Prozent aller Getreideimporte und nur 4,5 Prozent der pflanzlichen Öle und Fette stammten bislang aus der Ukraine oder Russland. Ausserdem werden rund 60 Prozent der Ernten von Schweizer Äckern an Hühner, Schweine und Rinder verfüttert.
Schlimmste Dürre seit vierzig Jahren
Aber am Horn von Afrika zieht weithin unbeachtet eine schwere Hungerkatastrophe herauf. Denn der mediale Fokus liegt auf dem Krieg in der Ukraine und die Folgen für die Schweiz und Europa, während in Ostafrika die schlimmste Dürre seit vierzig Jahren herrscht.
Nur dann retten wir Leben, wenn die reichen Länder des Westens sofort Gelder bereitstellen, um dem Nothilfe-Aufruf der Vereinten Nationen nachzukommen. Insgesamt braucht es fast 4.3 Milliarden Franken, um Gesundheit und Leben gerade der Schwächsten zu schützen: Jedes fünfte Kind in Äthiopien ist jetzt schon untergewichtig. Vier von zehn Kindern sind zu klein für ihr Alter, weil sie zu wenig und nicht ausgewogen essen.
Für extrem arme Familien der südlichen Länder ist die Verknappung an Lebensmitteln und damit einhergehende Preissteigerungen oft lebensbedrohlich. In Äthiopien haben die Dürre und ethnische Konflikte die Inflation auf Rekordhöhen getrieben. Die Preise für Lebensmittel lagen im Februar 41,9 Prozen höher als im gleichen Monat des Vorjahres. 8,6 Millionen Menschen sind auf Lebensmittel-Nothilfe angewiesen.
Zwar ist Äthiopien der grösste Weizen-Produzent in Afrika südlich der Sahara. Rund fünf Millionen Kleinbauern bauen das Getreide an. Die Erträge konnten sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten laut einer in der Zeitschrift «Nature» veröffentlichten Studie von rund einer Tonne auf 2,7 Tonnen pro Hektar steigern (zum Vergleich: In der Schweiz liegt der Ertrag bei rund sechs Tonnen pro Hektar).
Trotzdem können die äthiopischen Bauern bei einer Bevölkerung von 115 Millionen Menschen nur 70 Prozent der einheimischen Nachfrage produzieren.
Feldbau entlang von Flüssen mit Hilfe von Bewässerungskanälen könnte helfen, die Lücke zu verkleinern. Nach Angaben des Ministeriums für Wasser und Energie ist weniger als ein Fünftel des Bewässerungspotentials in Äthiopien ausgeschöpft. Den Kleinbauern fehlen aber Kapital und Wissen, um die Infrastrukturen zu realisieren.
Wasser in 1,5 Kilometer langem Hauptkanal
Deshalb hat Menschen für Menschen am Gibe Fluss im Distrikt Seka in Äthiopiens Südwesten innerhalb von drei Jahren eine neue Anlage gebaut. Am Umleitungswehr wird das Wasser aus dem Fluss in einen 1,5 Kilometer langen Hauptkanal geleitet. Es gibt einen Durchstich unter einer Fernstrasse und ein Aquädukt, bevor das Wasser in Zweig- und Nebenkanäle fliesst. Jetzt können über die insgesamt zwölf Kilometer langen Kanäle 200 Hektar Land ganzjährig genutzt werden. Ausserdem erhielten die Bauern Werkzeug und vor allem landwirtschaftliche Schulungen.
Der Erfolg ist erstaunlich: 540 Familien haben im Frühjahr 2022 zum zweiten Mal auf 180 Hektar Weizen angebaut. Mitte April ernteten sie rund viereinhalb Tonnen Weizen pro Hektar. Nach Abzug aller Kosten wie Dünger und Saatgut bleibt pro Familie im Durchschnitt ein Gewinn von umgerechnet 600 Franken.
Wenn man weiss, dass ein durchschnittlicher Tagelohn 90 Rappen beträgt, versteht man, was für ein riesiger Schritt die Bewässerungsanlage bedeutet. Bislang litten fast alle Familien, nämlich 90 Prozent, zeitweise im Jahreslauf an Nahrungsmangel. So stellte es eine Studie der Universität Jimma für den Bezirk Seka fest. Aber jetzt erlaubt die Bewässerung sogar eine weitere Ernte in diesem Jahr. Denn der Weizen braucht nur 100 Tage bis zur Reife.
Bereits nach drei Ernten übersteigt der Marktwert des Getreides die Investitionskosten für den Bau. Der äthiopische Bundesstaat Oromia verpflichtete sich, zwanzig Prozent der Baukosten zu übernehmen.
Die Beteiligung zeigt, dass die öffentliche Hand ein grosses Interesse hat, dass die Infrastruktur erfolgreich und langfristig in Betrieb sein wird – zum Wohl auch der Menschen in den Armvenvierteln der nahen Stadt Jimma: Das zusätzliche Angebot aus Seka wirkt auf dem lokalen Markt stabilisierend auf den Preis von Nahrungsmitteln.
Die Bewässerungsinfrastruktur zeigt: Es gibt nachhaltige Lösungen. Es hapert nur an der Verwirklichung. Die Reaktionen auf weltweite Krisen wie den Krieg in der Ukraine oder Covid-19 zeigten, dass Zivilgesellschaft, Regierungen und die Staatengemeinschaft kraftvoll Ressourcen mobilisieren können, um Leid zu vermindern. Mit überschaubarem Aufwand könnten noch viele ähnliche Bewässerungsinfrastrukturen gebaut werden. Es kommt lediglich auf den gemeinsamen Willen an.
Zum Autor: Kelsang Kone (43) ist Geschäftsführer der Stiftung Menschen für Menschen (mfm.ch). Er studierte Betriebsökonomie und NPO-Management an der Hochschule Luzern und an der Universität Freiburg. Die Schweizer Stiftung setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Sie wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können.