Wenn die Taube vor dem Löwendenkmal aus dem Kunstwerk fliegt
Die bulgarische Künstlerin Olga Georgieva malt vor dem Luzerner Löwendenkmal ein Live-Bild. Sie hält damit die teils flüchtige Beziehung zwischen dem Monument und den Menschen fest. Ihrer Erinnerung hilft sie bisweilen selber mit einem Handyfoto nach.
Mani Matter hat besungen, was Olga Georgieva dieser Tage wieder einmal erlebt. Doch nicht die Kuh am Waldrand ist es, die plötzlich aus der Szenerie verschwindet, die der Maler erwählt hat, sondern eine Taube. Und Menschen.
Neugierig beäugt eine Schulklasse an diesem Freitagvormittag die Papierrolle, die Georgieva auf den Pflastersteinen vor dem Luzerner Wahrzeichen ausgerollt hat und mit schwarzer Acrylfarbe bemalt. Mit wenigen Strichen hat die Künstlerin flugs Körper und Gesichter erfasst, als die Jugendlichen von der Lehrerin gerufen werden.
Georgieva vollendet die Szene aus dem Gedächtnis. Und auch ein Taubenpaar trappelt nur kurz vorbei, doch das genügt der Künstlerin, um eine davon zu Papier zu bringen. Erinnerungsvermögen ist gefragt und auch Geräusche beeinflussen den Prozess.
«Manchmal», sagte Georgieva, das Telefon in der Hand, «halte ich Szenen auch kurz fotografisch fest.» Die Schwierigkeit der Live-Arbeit sei es aber, die Anwesenden möglichst nicht merken zu lassen, dass sie Teil des Bildes werden.
Dass die 1986 in Bulgarien geborene Künstlerin, die mit ihren Live-Performances international unterwegs ist und schon in Genf gemalt hat, in der Stadt Luzern weilt, hat mit dem 200-Jahr-Jubiläum des Löwendenkmals zu tun, das 2021 ansteht.
Im Rahmen des mehrteiligen Kunstprojekts L21 ist das Resultat des Live-Paintings ab dem 15. Oktober in der Ausstellung «Die dunkle Seite des Löwens» in der Kunsthalle zu sehen.
Allerdings dienen die festgehaltenen Szenen nur als Vorstudie. Diese wird Georgieva anschliessend grossformatig in Holz schnitzen, das ein Bett an drei Seiten umrandet und in das sich die Ausstellungsbesucher unter dem Titel «Give your memories a home» legen können.
Projektleiterin Karin Mairitsch sagte, es gehe in Georgievas Arbeit um das Monument als Objekt der Erinnerung, die sich verändere, ins Dunkle gerate. Den Hintergrund des sterbenden Löwens etwa, der für den Tod von Schweizer Söldnern beim Tuileriensturm in Paris 1792 steht, sei vielen Besuchern nicht mehr bewusst.
Und in der Tat. Während Georgieva weiter beobachtet und malt, posiert eine Mutter aus Graubünden mit ihrem Sohn vor dem Löwen. Auf Nachfrage kann sie sich spontan nicht an die Geschichte hinter dem Denkmal erinnern. Auch drei Jugendliche aus Genf, die gerade auf ihrer Tour de Suisse in Luzern halt machen, wissen nichts von den Söldnern.
Die Frage, wofür ein Denkmal steht, ist seit der jüngsten Rassismus-Debatte hochaktuell, in Neuenburg etwa fordert eine Petition die Entfernung der Statue des Bankiers und Sklavenhändlers David de Pury (1709-1786). Mairitsch sagt über den Löwen: «Auch dieses Denkmal gehört kritisch hinterfragt.» Die Live-Performance dauert noch bis Samstag, 18 Uhr.