Jacqueline Fehr (SP): Auf Platz eins: die Agglo
Unsere Sehnsuchtsorte sind die hippe Stadt oder das stille Land. Die Agglomeration nehmen wir beiläufig wahr. Das ist ein grosser Fehler. Ein Gastbeitrag.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Grossteil der Schweizer Bevölkerung wohnt in der Agglomeration.
- Trotzdem geht die Agglo in der Politik und der öffentlichen Diskussion häufig unter.
- Das muss sich ändern, fordert Jacqueline Fehr in diesem Gastbeitrag.
Hier der Prime Tower, der Jet d’Eau, das KKL oder das Bundeshaus – dort das Matterhorn, das Engadin oder ein paar Kühe vor einem Bauernhaus: Die Postkarten-Schweiz besteht aus zwei Dimensionen, aus Stadt und aus Land.
Mögen tun wir beide: die Stadt mit ihrer Geschäftigkeit und urbanen Coolness, das Land mit seiner Stille und romantischen Naturwucht. Dass sie zusammen so etwas wie der Inbegriff der Traditionsschweiz sind, ändert allerdings nichts daran, dass es zwischen den beiden Dimensionen regelmässig zu Reibungen kommt.
Zum Beispiel bei Abstimmungen. Wenn die Stadt so und das Land anders stimmt, reden wir vom Stadt-Land-Graben. Der Konfliktklassiker ist der Umgang mit Wildtieren. Während Wolf und Bär in den Städten kuschlige Sympathieträger sind, empfindet sie die Landbevölkerung als Belastung und Bedrohung.
Bemerkenswert ist aber vor allem dies: Indem wir vom Stadt-Land-Graben reden, tun wir so, als sei die Schweiz ein Geschöpf aus zwei Polen, die sich zwar nicht immer lieben, die aber doch zusammengehören und unser Land ausmachen. Dabei wissen wir eigentlich alle, dass die Realität eine andere ist: Es gibt zwischen den beiden Polen ein grosses Dazwischen-Reich – die Agglomeration.
Dieses Dazwischen-Reich ist in der öffentlichen Diskussion viel weniger präsent als die Pole – und das, obschon die Mehrheit der Bevölkerung genau dort lebt.
Der Grund: Im Gegensatz zum pulsierenden Hipsterquartier oder zum unverfälscht Echten der Alphütten-Schweiz ist die Agglo kein Ort der Sehnsucht und keine Projektionsfläche unserer Wünsche. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Agglo haben kein eigenes Image – und auch kein eigenes politisches Profil: Mal stimmen sie mehrheitlich mit den Kernstädten, mal mit dem Land.
Was im Ergebnis dazu führt, dass wir die Agglo eher beiläufig wahrnehmen. Die Städterin und der Bergler sind Identifikationsfiguren. Die Menschen in der Agglo gehören einfach dazu, sind bloss mitgemeint.
Mit dieser Wahrnehmung machen wir einen Fehler – und zwar einen ziemlich grossen. Wir übersehen damit nämlich, wer heute die ganz grossen Leistungen erbringt.
Nirgendwo wächst die Schweiz so schnell wie in den Agglomerationen. Nirgendwo ändert die Aussicht aus dem Fenster so rasch wie in den Agglomerationen. Nirgendwo müssen sich die Menschen so oft an eine veränderte Umgebung anpassen wie in den Agglomerationen. Nirgendwo herrscht so viel Bewegung und Dynamik wie in den Agglomerationen.
Das ist eine doppelte Herausforderung: Zum einen gilt es die Bewegung, die Dynamik und das Wachstum quasi handfest zu bewältigen. Für ein gutes Leben in den Agglomerationen braucht es Infrastruktur. Es braucht Schulen, Kitas, einen guten öffentlichen Verkehr, Kulturangebote, Freizeitanlagen und so weiter.
Zum anderen braucht es einen gesellschaftlichen Effort, denn Veränderungen sind auch mental anspruchsvoll, nicht nur, aber ganz besonders für Menschen mit wenig Spielraum und wenig Flexibilität – etwa Seniorinnen oder Geringverdienende oder Migrantinnen.
Die Agglomeration ist das soziale Labor unserer Zeit. Hier werden unter hohem Druck Lösungen gesucht und praktiziert. Hier wird Integration gelebt. Hier werden Ideen entwickelt, ausprobiert, weiterverfolgt oder verworfen. Wenn die Gesellschaft als Ganzes ein Ort des Lernens ist, dann ist die Agglo sozusagen die Universität: Nirgendwo sonst sind die Aufgabenstellungen so anforderungsreich und die Antworten darauf so innovativ.
Für uns Politikerinnen und Politiker heisst das vor allem: Es ist wichtig, dass wir diese Leistungen würdigen – und die Agglomerationen in ihrem Bemühen unterstützen.
Von welcher Bedeutung das ist, ist allerdings noch nicht allen klar geworden. Da haben wir noch Aufklärungsarbeit zu leisten. Allzu viele Politikerinnen und Politiker verwechseln immer noch Leistungen mit Privilegien. Sie verkennen, dass Erfolg – zum Beispiel hohe Steuererträge dank guter Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – nicht Ausdruck davon ist, dass die betroffenen Gemeinden ihre Aufgaben besonders gut meistern. Sondern bloss davon, dass diese Gemeinden von einem Privileg profitieren, zu dem sie nichts beigetragen haben – zum Beispiel von einer besonders attraktiven Lage am See.
Die allermeisten Agglomerationsgemeinden haben keine solchen Privilegien. Das heisst: Sie haben keine Alternative – sie müssen gute Leistungen erbringen. Unterstützen wir sie dabei!
*Jacqueline Fehr ist seit 2015 Regierungsrätin des Kantons Zürich. Sie leitet die Direktion der Justiz und des Innern. Zuvor war sie von 1998 bis 2015 Nationalrätin. Die SP-Politikerin wohnt in Winterthur.