Harvey Weinstein: Neuer Prozess ist «Belastung» für Weinstein-Opfer
Das Jahrhunderturteil von Harvey Weinstein wurde aufgehoben, ein neues Verfahren wird eingeleitet. Welche Wirkung hat das auf Opfer sexualisierter Gewalt?
Das Wichtigste in Kürze
- Das Vergewaltigungsurteil gegen Harvey Weinstein wurde Ende April in New York aufgehoben.
- Der Prozess wird neu eingeleitet, die Opfer müssen vor Gericht wieder aussagen.
- Für Opfer kann eine Neuaufnahme eines Prozesses psychologisch stark belastend sein.
Die Welt hielt den Atem an, als das New Yorker Urteil gegen Harvey Weinstein (72) aufgehoben wurde. Grund dafür waren Aussagen von Zeuginnen, die nicht Teil der eigentlichen Anklage bildeten. Der Richter hätte die Zeugenaussagen nicht zulassen dürfen.
Der Fall soll nun neu aufgenommen werden. Heisst: Die Opfer müssen erneut aussagen.
2020 war der Ex-Filmmogul wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu 23 Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil in Kalifornien, das ihn 2022 zu 16 weiteren Jahren Haft verurteilte, bleibt bestehen.
Durch den Fall Harvey Weinstein entstand 2017 die MeToo-Bewegung, durch die zahlreiche Menschen über ihre Erfahrung mit sexualisierter Gewalt sprachen. Die Urteile gegen ihn gehörten zu den wichtigsten Erfolgen im Kampf gegen sexuelle Belästigung weltweit.
Opfer von Harvey Weinstein schockiert
Die Opfer von Harvey Weinstein sind zutiefst schockiert von der Aufhebung des Urteils. Dennoch gibt sich die MeToo-Bewegung nicht geschlagen.
Tarana Burke, die Erfinderin des MeToo-Slogans, sieht die Welle der Opfer, die sich äusserten, weiterhin als «Sieg»: «Die Menschen, die ihre Macht und ihre Privilegien missbrauchen, um andere zu verletzen und ihnen zu schaden, werden immer die Bösen sein.»
Die Urteilsaufhebung ändert für die Aktivistin nichts an diesen Tatsachen, das stellte sie in einem Statement auf Instagram klar.
Die «Silence Breakers», eine Gruppe, die für die Opfer von Weinstein spricht, bezeichnen die Urteilsaufhebung «enttäuschend» und «zutiefst ungerecht».
«Weitere Konfrontation ist oft eine Belastung»
Weinsteins Opfer müssen nun erneut gegen ihn Aussagen. Margot Vogelsanger von der Opferhilfe SG-AR-AI erklärt gegenüber Nau.ch den Unmut der Opfer nach einer Urteilsaufhebung oder einem Freispruch: «Eine weitere Konfrontation mit dem Erlebten ist oft eine Belastung.»
Auch Fedor Bottler von der Opferberatung Zürich erläutert: «Sich im Rahmen eines erneuten Verfahrens zum wiederholten Male sehr intensiv und ohne eigene Gestaltungsmacht mit dem Erlebten und der Täterschaft konfrontieren zu müssen, kann auf Opfer retraumatisierend wirken.»
Wenn ein Verfahren wieder neu aufgenommen wird, kann das laut Bottler auch das Vertrauen der Opfer in das Rechtssystem beeinträchtigen.
Wie ist die Situation in der Schweiz?
Susanne Nielen Gangwisch von der Opferberatung Aargau meint: «Auch in der Schweiz kann ein Strafverfahren eingestellt werden, wenn beispielsweise ‹Aussage gegen Aussage› steht.»
Und weiter: «Das ist vor allem bei sogenannten Vier-Augen-Straftaten (Sexualdelikte), in denen es keine Zeuginnen oder Zeugen gibt, relativ häufig.»
Margot Vogelsanger sagt dazu: «Die Schweiz ist ein Rechtsstaat und Verurteilungen sind nur möglich, wenn der beschuldigten Person das Delikt nachgewiesen werden kann. Ansonsten gilt der Freispruch ‹in dubio pro re›.»
Hoffnung sieht Vogelsanger in der Gesetzesrevision des Sexualstrafrechts, die ab dem 1. Juli in der Schweiz rechtskräftig wird. «Vergewaltigung / sexuelle Nötigung als Straftatbestand ist neu erfüllt, wenn das ‹Nein› des Opfers missachtet wird.»
Im bisherigen Gesetz gibt es Lücken. Etwa muss die beschuldigte Person ein Nötigungsmittel, beispielsweise Gewalt, einsetzen. Der Strafbestand «Vergewaltigung» besteht zudem nur bei vaginaler Penetration. So können Männer aktuell rechtlich gesehen nicht Opfer einer Vergewaltigung werden.
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Brauchen Sie Hilfe?
Sind Sie Opfer sexualisierter Gewalt geworden?
Die Opferhilfe hilft Ihnen dabei, die Erfahrung zu bewältigen, und informiert Sie über Ihre Rechte und weitere Schritte: www.opferhilfe-schweiz.ch.