Literaturnobelpreis: Was folgt auf Skandal und Handke?
Das Wichtigste in Kürze
- Es hätte alles so entspannt laufen können nach dem grossen Skandal: Wäre die Schwedische Akademie bei der Doppelvergabe der Literaturnobelpreise 2019 mit zwei grundsoliden Preisträgern auf Nummer sicher gegangen, wäre die schwere Krise mit all ihren internen Grabenkämpfen vermutlich ein für alle Mal beendet gewesen.
Stattdessen wählte die altehrwürdige Institution in Stockholm neben Olga Tokarczuk ausserdem den umstrittenen Peter Handke als Preisträger aus - und geriet damit abermals ins Kreuzfeuer der Weltöffentlichkeit.
«International betrachtet ist das eine mindestens mittelgrosse Krise gewesen», sagt der Kulturchef der schwedischen Tageszeitung «Dagens Nyheter», Björn Wiman, über Handkes Auszeichnung. Ein Jahr nach dem Skandal um das mittlerweile ausgetretene Akademiemitglied Katarina Frostenson und ihren Ehemann Jean-Claude Arnault sei die Akademie von der einen Krise in die andere gestolpert, indem der Preis an «einen ungeheuer kontroversen Schriftsteller» gegangen sei. Wiman glaubt, dass das vonseiten der Akademie letztlich ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung ihrer Kritiker und der Medien gewesen sei.
Eine kurze Rückblende: Der Skandal bei der Vergabe-Institution des Literaturnobelpreises war bereits im November 2017 im Zuge der #MeToo-Enthüllungen ins Laufen gekommen, nachdem 18 Frauen öffentlich Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung und Übergriffen gegen Arnault vorgebracht hatten. Wegen Vergewaltigung wurde er Ende 2018 zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Zudem warf die Akademie Frostenson und Arnault vor, die Preisträger vorab ausgeplaudert und so gegen ihre Geheimhaltungspflicht verstossen zu haben. Das Resultat des Ganzen: 2018 wurde zunächst kein Literaturnobelpreis vergeben.
Mit der Doppelbekanntgabe der Preisträger für 2018 und 2019 sollte im vergangenen Oktober dann alles gut werden. Die Auszeichnung der Polin Tokarczuk wurde auch allgemein gelobt - die des Österreichers Handke löste dagegen einen Sturm der Kritik und Proteste in Stockholm und darüber hinaus aus. Handke hatte sich im Jugoslawien-Konflikt stark mit Serbien solidarisiert und nach Ansicht von Kritikern die von Serben begangenen Kriegsverbrechen bagatellisiert oder geleugnet. 2006 hielt er bei der Beerdigung des sechs Jahre zuvor gestürzten serbischen Führers Slobodan Milosevic gar eine Rede.
Mittlerweile hat sich die Lage bei der Schwedischen Akademie beruhigt. Dass sie sich nun bei der Bekanntgabe des diesjährigen Preisträgers am kommenden Donnerstag (8. Oktober) ein neues Problem schaffen wird, damit rechnet Wiman nicht. «Ich glaube, dass sie eine sichere Wahl treffen werden», sagte er vorab der Deutschen Presse-Agentur in Skandinavien.
197 nominierte Kandidaten kommen dafür in diesem Jahr infrage. Laut Akademie sind darunter 37, die zum ersten Mal nominiert worden sind.
Wer auf der Liste steht und wer am Ende den prestigeträchtigsten Literaturpreis der Erde mitsamt einem Preisgeld von diesmal zehn Millionen Kronen (rund 950.000 Euro) erhalten wird, darüber lässt sich wie üblich nur spekulieren: Die Namen werden traditionell für 50 Jahre geheimgehalten. Eine Antwort auf die Frage nach dem Preisträger wird es also erst geben, wenn der Ständige Sekretär Mats Malm am Donnerstag um Punkt 13.00 Uhr im prunkvollen Börshuset in der Stockholmer Altstadt vor die Presse treten wird. Coronabedingt werden diesmal deutlich weniger Journalisten dabei sein als sonst.
An potenziellen Preisträgern mangelt es wie so oft nicht. «Man müsste eigentlich immer viele Nobelpreise vergeben», sagt der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck. Er persönlich hält zunächst vor allem einen für preisverdächtig. «Ich vertrete seit vielen Jahren die Ansicht, dass Thomas Pynchon den Literaturnobelpreis nun wirklich verdient hätte», sagte Scheck der dpa. Mit Werken wie «Gravity's Rainbow» (Die Enden der Parabel) und «Against the Day» (Gegen den Tag) sei Pynchon einer der grossen Innovatoren der Prosa des vergangenen und des laufenden Jahrhunderts gewesen.
Allerdings schätzt Scheck die Erfolgsaussichten für einen weissen US-Amerikaner als sehr gering ein. Auch an einen Preisträger aus Deutschland glaubt er nicht - obwohl er einen Favoriten zur Hand hätte. «Die Nobelpreis-Jury würde eine kluge Entscheidung treffen, wenn sie Hans Magnus Enzensberger küren würde», sagt er. Enzensberger habe sich immer wieder neu erfunden, eine «quecksilbrige Intelligenz» und dabei auch das Lachen nicht vergessen. «Und wenn es Martin Walser würde, dann würde ich mich auch freuen, sehr sogar», ergänzt er.
Scheck hat noch drei weitere Namen im Angebot, deren Werk eine Ehrung rechtfertigen würde: Zum einen nennt er den Somalier Nuruddin Farah, der viel mehr als nur ein Chronist des Bürgerkriegs in Somalia sei, sondern zu den ganz grossen Schriftstellern zähle. Verdient habe es auch der US-Autor Richard Ford, der ihn von Buch zu Buch immer mehr überzeuge und psychologische Raffinesse mit stilistischer Brillanz verbinde. Und dann wäre da noch Margaret Atwood, die schon seit längerem immer wieder für den Nobelpreis gehandelt wird.
«Sie ist eine Autorin, die verschiedene Konzepte in einer Art literarischer Kernfusion miteinander verschmilzt», sagt Scheck. Dazu zähle ein überaus starker Naturbezug, zudem sei die Kanadierin ebenso brillante Lyrikerin wie Romanautorin. Und als wäre das nicht genug, finde sich bei ihr auch ein «wunderbar humoristischer Feminismus».
Auch «DN»-Kulturchef Wiman sieht in Atwood eine gute Wahl. Seine Hauptfavoritin ist aber eine andere. «Ich denke, es sollte Jamaica Kincaid werden», sagt er. «Sie ist eine brillante Schriftstellerin und auch eine intellektuelle Person - das ist etwas, was Handke nicht verkörpert.» Kincaid stammt von der Karibik-Insel Antigua und lebt in den USA. Unabhängig von allen Spekulationen ist sich Wiman nach der Wahl einer Polin und eines Österreichers im Vorjahr aber vor allem in einem sicher: «Es wird diesmal kein Preisträger aus Europa.»