Power-Frauen drängen im Pop nach vorn
Das Wichtigste in Kürze
- Branchentreff, Business-Plattform, Fachkonferenz, Livemusik-Magnet mitten in Hamburg: Das Reeperbahn-Festival will längst mehr sein als nur eine spätsommerliche Pop-Sause.
Noch bis bis Samstag gehen die Macher von Europas grösstem Club-Festival daher erneut mit einem gesellschaftlichen Topthema in die Offensive - dem «Keychange»-Programm zur Gleichstellung der Geschlechter (Gender Equality) in der Musik, das bis 2022 ein ausgewogenes 50-Prozent-Ziel erreichen will.
«Die Musikbranche sieht sich als Ort gelebter Vielfalt und Motor für zeitgemässe gesellschaftliche Veränderungen. In ihren Strukturen bildet sich das aber längst nicht ab», betont der Festival-Gründer und -Geschäftsführer Alex Schulz. «Weibliche, trans- und non-binäre Künstler*innen haben weniger Auftrittsmöglichkeiten, Airplay und vor allem Entwicklungsmöglichkeiten als männliche. Sie verdienen weniger und bekommen schwieriger Jobs in der Musikbranche.»
Auch in Deutschland wird die männliche Dominanz etwa bei Popfestivals kritisiert. Laut «Keychange» sieht es mit der Gender-Gerechtigkeit insgesamt trist aus. So waren auf US-Festivalbühnen im Vorjahr 76 Prozent der Musiker männlich - nur 14 Prozent weiblich, 12 Prozent geschlechtlich divers. Unter den Produzenten der 600 populärsten Lieder waren nur etwa 2 Prozent Frauen oder divers. Bei den registrierten Songwritern sind 84 Prozent männlich. Und neun von zehn Grammy-Nominierten zwischen 2012 und 2018 waren - Männer.
Im krassen Widerspruch dazu steht die Wertschätzung, die Frauen im aktuellen Pop, Rock, Soul und Hip-Hop von Musikkritikern erfahren. So hob der Berliner Experte Jens Balzer in seinem Buch «Pop: Ein Panorama der Gegenwart» (2016) die Bedeutung von Rihanna oder Beyoncé für den Zeitgeist hervor, aber auch die Vorreiterinnen-Rolle von eher avantgardistischen Musikerinnen wie Julia Holter oder Holly Herndon.
Immer mehr junge, mutige, oft der LGBTQ-Szene (Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transgender, Queer) angehörige Frauen leben ihre Kreativität in der Musik aus - mit Erfolg. Es sind Sängerinnen, Songwriterinnen, Multi-Instrumentalistinnen und Gitarristinnen aus Europa, den USA oder Australien/Neuseeland. Eine kleine Auswahl von derzeit besonders interessanten Power-Frauen in der Popmusik:
DEUTSCHLAND: Mit ihrem Ende August erschienenen Album «Power Nap» begeistert Ilgen-Nur. Die bei Stuttgart geborene, jetzt in Berlin lebende Ilgen-Nur Borali (23) spielt toll Gitarre und hat eine beeindruckende Stimme. Zum Thema Gender-Balance in der Musikszene sagte die Singer-Songwriterin mit türkischen Wurzeln, die beim Reeperbahn-Festival 2018 und bei «Lollapalooza 2019» auftrat, der Berliner «tageszeitung»: «Deutschland braucht halt noch zehn Jahre länger. Aber ich bin hier und versuch's.» Und sarkastisch fügte sie hinzu: «Ich blockiere jeden Tag fünf Männer.»
GROSSBRITANNIEN: Die virtuose Gitarristin Anna Calvi (38) aus London verzückt Kritiker und Fans - zuletzt vor einem Jahr mit dem feministischen Album «Hunter». So einflussreich könnte auch Marika Hackman (27) werden, die auf ihrem im August veröffentlichten Werk «Any Human Friend» in schönen Popsongs explizit über lesbische Liebe und Sex singt. Die als Charlotte Aitchison geborene Charli XCX (27) ist bisher vor allem als Hit-Schreiberin für andere, oft weibliche Stars hervorgetreten. Sie will mit ihrer neuen Platte «Charli» nun selbst den Sprung in die erste Reihe schaffen - ebenso wie Freya Ridings (25) mit ihrem selbstbetitelten Pianopop-Debüt.
USA: Hier ist zuallererst die weltweit gefeierte Singer-Songwriterin Billie Eilish (17) zu nennen. Direkt dahinter Annie Clark (36) alias St. Vincent: Die vielseitige Sängerin, Gitarristin und Produzentin war mehrfach für Grammys nominiert und gewann die Trophäe 2019 in der Kategorie «Bester Rocksong». Weitere junge Singer-Songwriterinnen mit grosser Zukunft: Lucy Dacus (24), Melina Duterte (25) alias Jay Som, Mitski (28), die Soul-Sängerin Lizzo (31), Angel Olsen (32) - um nur einen Bruchteil der US-Hoffnungsträgerinnen zu nennen.
AUSTRALIEN/NEUSEELAND: Die wohl wichtigste Frau der Indierock-Szene «down under» ist Courtney Barnett (30) aus Sydney: selbstbewusste Gitarristin, lässige Sängerin, Vorbild für viele Musikerinnen. Ihre Studioalben werden weltweit gefeiert, zuletzt im Vorjahr «Tell Me How You Really Feel». Eleganten, melancholischen Pop macht Lorde (22) aus Auckland/Neuseeland - «Melodrama» kam 2017 auf Platz 1 der US-Charts.
So viel Begabung, so viel Klasse - und doch nur zweite Geige hinter den Herren der Schöpfung? Reeperbahn-Festivalchef Alex Schulz fordert deswegen schon länger eine zeitlich begrenzte Frauenquote etwa für Airplay und Konzertspielpläne. Der «Keychange»-Mitgründer begründet das im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur so: «Musikalisches Talent ist gleich verteilt auf Frauen und Männer, aber viele gleich gute Beiträge von weiblichen Künstlerinnen erreichen niemals die Öffentlichkeit.» Eine Quote auf Zeit erzeuge «eine qualitativ hochwertigere und eine geschlechtlich ausgeglichene Generation» in der Musik, und sie verändere die Hörgewohnheiten der Fans.
Beim Reeperbahn-Festival 2019 sollen deutlich über 40 Prozent der auftretenden Musiker weiblich sein. Das «Keychange»-Ziel bis 2022 (50 Prozent) «schaffen wir locker», sagt Schulz. Im Rahmen dieser Gender-Offensive sind in Hamburg wieder etliche Talente am Start, die womöglich noch gross abheben: die Rapperin Ebru Düzgün alias Ebow, die Soul-Künstlerin Onejiru und das Frauen-Duo Gurr aus Deutschland, die norwegische Popsängerin Aurora, die stimmgewaltige Donna Missal aus den USA sowie die britischen Musikerinnen Georgia und Billie Marten.