Alt Bundesrat Kaspar Villiger rechnet mit der EU ab
Brexit, Euro als Spaltpilz, Personenfreizügigkeit als Tabu: Alt Bundesrat Kaspar Villiger sieht viel Reformpotential bei der Europäischen Union.
Das Wichtigste in Kürze
- In einem «NZZ»-Gastkommentar richtet sich alt Bundesrat Kaspar Villiger an die EU.
- Reformen müssten in der Union angepackt werden, so der FDP-Mann.
- Dabei könne die EU auch von der Schweiz lernen.
«Denk ich an Brüssel in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.» Die Einleitung eines Kommentars von alt Bundesrat Kaspar Villiger lässt aufhorchen. Der Beitrag des FDP-Staatsmanns liest sich als grosse Fundamentalkritik an der Europäischen Union.
Zwar sei das Konstrukt bisher ein «Erfolgsmodell» gewesen. So habe sie Frieden, Demokratie, Wohlstand, soziale Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit gebracht.
Zudem sei klar: Zu gross wären die politischen und wirtschaftlichen Kollateralschäden bei einem Zerfall der EU – auch für die Schweiz. Europa würde in die «Bedeutungslosigkeit» zurückgeworfen.
Euro wirke als Spaltpilz
Doch in der EU sei «der Wurm drin», so schreibt Villiger in der «NZZ». Dies zeigten die Austrittsgelüste Grossbritanniens. Beitreten wollten hingegen nur Länder, welche die eigenen Probleme kaum lösen könnten. Und zuallerletzt wirke der Euro, «gedacht als wundersamer politischer Einiger», nach wie vor als Spaltpilz.
Darum müssten Reformen her. Dabei könne man vom Schweizer Föderalismus lernen. Denn auch die Schweiz sei als politisches Experiment zu verstehen, «das den Beweis liefert, dass auch ein Land ohne den Kitt einer gemeinsamen Sprache, Ethnie und Kultur und mit über einem Drittel Menschen mit Migrationshintergrund, eine funktionierende politische Gemeinschaft ein tragfähiges Wir-Gefühl schaffen kann.»
Vier wichtige Reformpunkte sieht Villiger:
Die Beschränkung auf zentrale Kernaufgaben
Die Grösse Europas beruhe auf ihrer Vielfalt. Doch «die EU schickt sich an, diese Vielfalt zu ersticken». Brüssel strecke seine politischen Tentakel in immer verzweigtere Politikbereiche. Darunter würde der Wettbewerb der Systeme erlahmen. Und «je mehr Brüssel dreinredet, desto einfacher wird es, Brüssel auch die Schuld an allen Missständen in die Schuhe zu schieben».
Villigers Lösungen: Ein substanzieller Rückbau der Kompetenzen der EU, die Eliminierung aller Doppelzuständigkeiten, mehr Durchsetzungskraft der EU in den Bereichen Verteidigung, Aussenpolitik, Schutz der Aussengrenzen, Flüchtlingswesen, Sicherung der demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen und schliesslich der Umbau des Europäischen Gerichtshofs «von einem Integrationsbeschleunigungs- zu einem Subsidiaritätssicherungsinstrument».
Auch der Erhalt des Binnenmarktes gehöre dazu. Allerdings soll dieser sich auf die marktwirtschaftlichen Kernbereiche konzentrieren.
Die Stärkung der Selbstverantwortung
Des Weiteren hätten Politiker in einer Demokratie den Anreiz, dem realpolitischen Prinzip der geringsten Anstrengung zu folgen. Dies könne durch die Verbindung von Kompetenz und Haftung gelöst werden. Heisst: «dass die Personenkreise, die eine Staatsleistung konzipieren, realisieren und nutzen, auch für die Finanzierung aufkommen müssen» und dass «einem insolventen Staat weder die Notenbanken noch die Steuerzahler anderer Staaten helfen».
Kurz: «Wer selber bezahlen muss, was er anrichtet, und wer weiss, dass ihm im Misserfolgsfall niemand beisteht, wird seine Projekte sorgfältiger planen und effizienter gestalten.»
Eine Beschränkung der Personenfreizügigkeit
Ökonomisch sei unbestritten, dass die Grundfreiheiten – freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen – den Wohlstand Europas gefördert haben. Jedoch habe dies bei der Personenfreizügigkeit «unerwünschte Nebenwirkungen».
Migration etwa würde das «Assimilisationspotenzial» eines Landes überfordern und die Solidarität, auch innerhalb der einheimischen Bevölkerung, beeinträchtigen. «Das ist Gift für eine Demokratie.» So wäre etwa mit «bescheidenen Zugeständnissen» an die Briten im Bereich der Personenfreizügigkeit der Brexit zu vermeiden gewesen. Auf der anderen Seite verlieren viele osteuropäische Staaten qualifizierte Arbeitskräfte.
«Die EU täte gut daran, die Personenfreizügigkeit zu enttabuisieren und klug einzuschränken.» Tue sie das nicht, könnte ihr das Problem eines Tages über den Kopf wachsen. Ökonomisch betrachtet spreche wenig dagegen.
Die konsequente wirtschaftliche Öffnung für Drittstaaten
Es sei nicht zu übersehen, dass die EU sich überdehnt hat. Trotzdem offeriere man Problemländern weiterhin den Beitritt.
Die Lösung könne «nur darin liegen, Drittländern – damit natürlich auch Grossbritannien oder der Schweiz – mehr wirtschaftliche Integration ohne politische Integration anzubieten». Dies wäre keineswegs ein Geschenk, denn «der wirtschaftliche und stabilitätspolitische Nutzen wäre für die EU selber mindestens so gross wie für die betroffenen Drittländer.
Für Villiger ist klar: Gerade in der EU seien politische Richtungswechsel erfahrungsgemäss schwierig. Die Chancen eines Paradigmenwechsels seien deshalb gering. Doch auch kleine institutionelle Schritte könnten substanzielle Konsequenzen haben. Die EU täte darum gut daran, über die staats-, demokratie-, und wirtschaftspolitischen Fragen jenseits der Tabus und Dogmen zu diskutieren.