Coronavirus: Claude Longchamp sieht Alain Berset als Gewinner
Das Wichtigste in Kürze
- Politologe Claude Longchamp blickt in die politische Zukunft während und nach der Krise.
- Bundesrat Alain Berset habe sich profilieren können, auf Kosten von Bundesrätinnen.
- Der Mega-Abstimmungssonntag im Herbst bevorteile wohl zwei der fünf Vorlagen.
Die Pandemie richtet das Scheinwerferlicht nicht unbedingt auf die Personen und Themen, die üblicherweise angestrahlt werden. Die Analyse von Politologe Claude Longchamp zeigt aber auch, wer etwas im Dunkeln stehen gelassen wird. Das liebe Geld ist sicher ein grosses Thema, und dies könnte für die politische Themenlage in der zweiten Jahreshälfte relevant werden.
Alain Berset als Leader-Figur
«Wir in der Schweiz kennen die Tradition einer Staatsführung nicht, sondern werden misstrauisch, wenn einer meint, er müsse herausragen.» In Krisensituationen gebe es aber oft eine Art Staatsleiter-Effekt, sagt Claude Longchamp, und dies habe sich auch in der Schweiz gezeigt.
«Der Leader bei diesem Thema war Alain Berset. Mit einem Verständnis des aktiven Staats als Sozialdemokrat, aber auch als Welscher, hat er durchaus diese Lücke gefüllt.» Seine Umfrage-Werte zeigten, dass er sich klar abhebe von den anderen Bundesräten. Neben Berset habe auch Finanzminister Ueli Maurer profitiert. Auch er habe immer sehr klare Aussagen gemacht – wenn auch nicht immer die gleichen wie Berset.
Unter die Räder geraten seien dagegen die bisherigen Lieblinge der Nation. Die beiden neugewählten Viola Amherd und Karin Keller-Sutter hätten ihren Frauenbonus eingebüsst. «Weder Frau Amherd noch Frau Keller-Sutter haben eine besondere Rolle spielen können.»
Wissenschaftler als spektakuläres Phänomen
Plötzlich im Rampenlicht standen auch diverse Wissenschaftler. Sie mussten komplexe Zusammenhänge erklären und waren sich in der Interpretation von Forschungsergebnissen nicht immer einig. «Das war ein spektakuläres Phänomen der letzten zwei Monate: Wissenschaftler spielen plötzlich eine grosse Rolle.»
Teilweise habe man dies letztes Jahr schon mit Umwelt-Wissenschaftlern gesehen, aber mit dem Coronavirus habe die Wissenschaft einen neuen Stellenwert. «Gelegentlich schon fast mit der Fehlvorstellung, dass die Wissenschaftler den Bundesrat führen würden.» Die politischen Entscheide seien weiterhin dem Bundesrat überlassen, wenn auch wohl stärker gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse.
Insgesamt habe die Wissenschaft daraus Vorteile gezogen, so Longchamp. «Vielleicht mit einer Ausnahme, die aber typisch ist für Experten: Die sind nicht immer gleicher Meinung.» Nicht alles ist bereits erforscht, dann dringt bei den Experten die eigene Meinung durch. «Mit dem muss man noch umzugehen lernen.»
Zwei Themen dominieren Super-Abstimmungssonntag
Weil der Bundesrat den Abstimmungstermin im Mai gestrichen hat, kommt es am 27. September zum Super-Abstimmungssonntag. Jedes Thema für sich allein hat schon genug Sprengkraft. Die Begrenzungsinitiative der SVP, das Jagdgesetz mit dem Reizwort «Wolf», die verpolitisierten Kinderabzüge, der Vaterschaftsurlaub und nicht zuletzt die Kampfjets.
Fünf Vorlagen sei knapp an der Grenze des Erträglichen, findet Longchamp, und es könne dazu führen, dass nicht alle gleich behandelt würden. Seine Prognose: «Es wird zwei Themen geben, die ganz stark diskutiert werden, nämlich die Kampfjets und die Begrenzungsinitiative.» Diese hätten die grössten politischen Folgen.
Sommer wird die Phase der Finanzen
Das sei aber nicht entscheidend, sondern die Themenlage über den Sommer. Raus aus dem Lockdown und der Krisenbewältigung, Bilanzierung der Konsequenzen, und diese seien primär finanzieller Natur. Woher soll das Geld kommen – etwa von einer Verzichtsplanung? Sobald man damit anfange, seien die Vorlagen mit finanziellen Folgen im Fokus: Vaterschaftsurlaub, Kinderabzüge und Kampfjets.
«Ich kann mir vorstellen, dass diese drei Vorlangen mehr Mühe haben werden, als sie sonst gehabt hätten.» Und sonst gelte die «immer noch recht gute Regel»: Initiativen werden abgelehnt, Regierungsvorlagen meistens angenommen. Bei der Begrenzungsinitiative bleibt Longchamp deshalb bei der Nein-Prognose, bei den anderen vier Vorlagen sei er unschlüssig. Tendenziell ein Ja, mit dem Vorbehalt der aus dem Lot geratenen Finanzen.
Erholt sich die Schweiz schnell…
Nach einer Zäsur wie dem Lockdown sieht Claude Longchamp zwei mögliche Szenarien. Entweder eine kurze Baisse und schnelle Erholung, also eine Kurve in V-Form, «so wie man das aus Konjunkturprognosen kennt». Oder eine L-Form: «Es sackt ab, und dann versucht man sich mittel und langfristig noch zu halten.»
Longchamp hält eine V-Kurve für wahrscheinlicher. Die Schweiz habe bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass sie gestärkt aus einer Krise kommen könne, zum Beispiel nach der Finanzkrise 2008. «Plötzlich hat die Schweiz gemerkt, dass sie strotzt vor Kraft und das wirtschaftlich gut überlebt hat. Es ist eine richtige Swissness-Welle entstanden – in ganz Europa das Gegenteil, aber wir waren stolz auf uns!»
…oder gar nicht?
Die L-Form habe er aber halt auch erlebt: «Der EWR. Das war ein ganz tiefer Einschnitt und eine tiefe Identitätskrise war die Folge – weil Werte betroffen waren.» Das habe zu einer politischen Neuorientierung geführt, die 15 Jahre lang gedauert habe, «mindestens». Ein solches Szenario sieht Longchamp im Moment nicht, aber es gebe offene Fragen.
«Die Schweiz muss widerstandsfähiger werden und wird vielleicht weniger auf Globalisierung setzen. Hält der Bio-Boom aus den ersten Tagen der Krise an? Suchen wir vermehrt regional unsere Stärken? Da wäre ich nicht so sicher, welcher Trend sich durchsetzt.»