Das steckt dahinter: R-Wert erneut nach unten korrigiert
Der R-Wert sinkt auf unter 1,0 – und war offenbar auch davor viel zu hoch geschätzt. Kann sich der Bundesrat noch darauf verlassen?
Das Wichtigste in Kürze
- Der R-Wert wird mit neuen Daten laufend nach unten korrigiert.
- Warum er schwankt, lässt sich erklären – warum so stark aber offenbar nicht.
- Der Bundesrat will nächste Woche dennoch auch aufgrund dieser Berechnung entscheiden.
Der Bundesrat will sich bei seinem Lockdown-Lockerungs-Entscheid nächste Woche an Richtwerten orientieren. Darunter der ominöse R-Wert, die Reproduktionszahl, die aussagt, ob die Fallzahlen exponentiell ansteigen oder sinken. Aktuell liegt er bei 0,96 für den 30. März – das lässt viele hoffen, denn alles unter 1,0 ist gut, alles darüber Gefahrenzone.
Doch was soll man davon halten, wenn die federführende ETH den Wert ständig massiv korrigiert? So lag der R-Wert für den 23. März Anfang Woche bei 1,12, die Neuberechnung einen Tag später ergab noch 1,04. Ende Woche dann 1,01, was uns als Gesellschaft natürlich freut, aber auch etwas verunsichert: Geht alles mit rechten Dingen zu?
Der beste Wert ist eigentlich nichts wert
Zwei Faktoren machen die R-Wert-Statistik so mühsam: Es fliessen nachträglich weitere Daten ein und die Berechnung ist eigentlich eine Schätzung. Und damit per Definition ungenau. Die für den R-Wert zuständige ETH-Professorin Tanja Stadler erläutert das in einem Blog-Beitrag an Situationen aus dem Alltag. Zum Beispiel der Zeit, die wir für den Arbeitsweg benötigen.
Gemäss S-Bahn-Fahrplan dauert dieser immer gleich lang, erfahrungsgemäss aber nicht. Aber wir können die Zeit ziemlich gut eingrenzen, wegen ebendieser Erfahrung. Das Problem beim R-Wert: Die Erfahrung findet laufend immer noch statt. Und wir sind nicht ganz sicher, ob unsere Uhr richtig geht, weil Pandemie-Uhren noch nicht lange auf dem Markt sind.
Deshalb publiziert die ETH auch immer ein Vertrauensintervall. Das sei zentral, so Stadler: Der kommunizierte R-Wert sei die beste Schätzung. Aber dieser dürfe nicht überinterpretiert werden: «Unsere Schätzungen liefern nie einen präzisen Wert, sondern immer einen Schätzbereich.» Aktuell liegt der R-Wert darum ganz bestimmt ziemlich sicher zwischen 0,83 und 1,09, höchstwahrscheinlich bei 0,96, ausser wir berechnen neu.
Nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig
Um beim Beispiel zu bleiben: Für den 23. März wurden also zunächst hohe, dann immer tiefere R-Werte publiziert. Haben ETH und BAG damit unnötig die Bevölkerung erschreckt, wenn sie ihre «falschen» Berechnungen höchstselbst korrigieren mussten? Nicht wirklich, insbesondere waren die Berechnungen nicht falsch, wir haben quasi nur etwas zu genau hingeschaut.
Denn auch die korrigierten Werte liegen noch im Vertrauensintervall. Also in dem Bereich, den die ETH von Anfang an angegeben hat. Nur will der statistische Laie halt lieber einen exakten Wert, gerne auch einen, der nicht einen Tag später schon ändert. Soweit also alles korrekt, wenn auch nicht sehr kompatibel mit unserem intuitiven Verlangen nach harten Fakten.
Illustrieren lässt sich die Problematik verdankenswerterweise sehr gut mit dem Kantönligeist. Wenn wir mehr und genauere Daten hätten, wäre der R-Wert auch exakter. Bei einem Kanton mit vielen Daten, weil grosser Bevölkerung, wie dem Aargau, lässt sich der R-Wert gut eingrenzen. Bei Appenzell Innerrhoden liegt er irgendwo zwischen sensationellen 0,5 und jenseits von Gut und Böse.
Wenn das so weitergeht…
Nur: Warum der (schweizweite) R-Wert so stark und stets nach unten verbessert wurde, konnte die ETH auf Anfrage noch nicht sagen. Wird sich der Trend fortsetzen und der R-Wert noch weiter sinken? Liegt er unter 1,00, wäre zumindest dieses Kriterium des Bundesrats für weitere Lockerungen erfüllt.
Viele gehen aber davon aus, dass die Zahlen über Ostern mit Vorsicht zu geniessen sind. Mit den nächsten Updates könnte der errechnete R-Wert wieder deutlich steigen. Ab 1,15 hiesse das dann: Massnahmenverschärfung.
Besser wäre natürlich, wenn auch die heutigen Berechnungen aufgrund neuer Daten noch stark nach unten korrigiert würden. Denn der Bundesrat besteht auf «7 Tage unter 1». Bei der Festlegung hat die Landesregierung aber offenbar einen entscheidenden Punkt ausser Acht gelassen. Sie besteht wohl auch nur aus statistischen Laien mit intuitiven Verlangen nach harten Fakten.
Zwar ist die Schweiz grösser als der Aargau. Doch der Graubereich, die statistische Unsicherheit, erstreckt sich trotzdem noch sowohl über als auch unter 1,00. Und beides gleichzeitig bedeutet gemäss Professorin Tanja Stadler, «dass wir keine ‹gesicherte› Aussage machen können». Lies: Wenn das so weitergeht, kann der Bundesrat eigentlich gar nicht entscheiden.