Der Marshmallow-Test: Was er mit der Pandemie zu tun hat
Soll die Bevölkerung in der Krise geduldig sein, damit später alles noch besser wird? Vierjährige können das. Tintenfische auch.
Das Wichtigste in Kürze
- Besteht die Schweiz den Marshmallow-Test, der für Vierjährige gedacht ist?
- Geduld ist gefragt, dann gibt es Belohnung.
- Bundesrat Alain Berset weicht einer Antwort aus.
Vor einem Jahr wurde dem Bundesrat unter anderem vorgeworfen, er behandle die Bevölkerung in der Pandemie wie unmündige Schulkinder. Sind wir aber wirklich besser als Kinder, wenn es um Abwägungen für die nähere und fernere Zukunft geht? Darauf gib Gesundheitsminister Alain Berset nur ausweichend Antwort – dabei wäre es doch lediglich um Süssigkeiten gegangen.
Später, dafür mehr
Der Marshmallow-Test ist ein legendäres Experiment in der Psychologie. Es veranschaulicht auf simple Weise die Problematik «Impulskontrolle und Belohnungsaufschub». Durchgeführt wurde es zu Beginn mit ungefähr 4 Jahre alten Kindern durch den US-Psychologen Walter Mischel. Als Belohnung winkten besagte Marshmallows, doch der Weg dorthin war für viele Kinder ein Krampf.
Das Kind wird vor einen Teller mit einem Marshmallow gesetzt, den es essen darf. Aber mit einem Haken: Der Versuchsleiter verlässt den Raum und verspricht, gelegentlich zurückzukehren.
Das Kind kann ihn mit einer Glocke vorher zurückrufen; dann darf es das Marshmallow essen. Oder es kann warten, bis der Versuchsleiter von selbst wieder kommt – dann darf es sogar zwei Marshmallows essen. Etwa ein Drittel der Kinder verdienten sich so ein zweites Marshmallow.
Berset: «Ich sehe die Frage…»
Die Frage liegt auf der Hand: Ist die Lockdown-geplagte Bevölkerung als Ganzes so diszipliniert und vorausschauend wie Vierjährige? Noch bevor die Frage wirklich gestellt war, schmunzelte Bundesrat Alain Berset: «Ich sehe die Frage, die da kommt.» Ganz wohl war ihm dabei aber offensichtlich nicht, die Frage war ihm zu wenig präzis. Ausserdem fehle etwas die Zeit für philosophisches Geplauder.
Ist die Frage aber berechtigt? Vierjährige verstehen solche Vorgaben, eine Geheimagenda unterstellen kann man ihnen wohl nicht. Ausser der Schlaubergerin, die das Innere des Marshmallows herausklaubte und den Versuchsleiter mit einer Marshmallow-Hülle zu täuschen versuchte.
Der Marshmallow-Test funktioniert sogar mit Affen, Hunden, Krähen und Tintenfischen. Wäre es vermessen, vom gut informierten Schweizer Stimmvolk mehr zu verlangen? Ja und nein – denn der Marshmallow-Test ist vielschichtiger, als die Versuchsanordnung zunächst vermuten lässt.
«Ich sehe sehr viele unterschiedliche Marshmallow-Tests»
Psychologe Walter Mischel selbst warnte vor einer Überinterpretation seiner Testergebnisse. Erklärt wurden diese durch Selbstkontrolle, Lernfähigkeit, zukunftsorientierte Nahrungssuche und speziell beim Tintenfisch durch strategisches Jagen. Aber die Rahmenbedingungen spielen eine grosse Rolle.
Sieht das Kind das Marshmallow oder kann sich wenigstens gedanklich ablenken durch Spielzeug im Raum? Entscheidend, zeigten spätere Experimente, ist auch die individuelle Erfahrung. Wenn Geduld bereits in der Vergangenheit belohnt wurde, steigt die Erfolgsrate im Marshmallow-Test. Umgekehrt warten bereits einmal enttäuschte Kinder viel seltener ein zweites Mal auf zukünftige wohlverdiente Zuckererträge.
Übertragen auf die Pandemie und den Lockdown heisst dies: Nur eine Bevölkerung, die noch an Versprechungen glaubt, ist auch geduldig. Kommt hinzu: Nicht jeder mag Marshmallows – und nicht jeder vermisst Partys, Grosseltern, maskenlose Gesichter oder Gedränge in der S-Bahn gleichermassen. Wenn Bundesrat Berset sagt, «ich sehe sehr viele unterschiedliche Marshmallow-Tests», weicht er zwar aus, hat aber auch recht.
Würde Alain Berset den Marshmallow-Test bestehen?
Berset wies noch auf einen weiteren Punkt hin. Im Prinzip sei es schon so, dass heutiger Verzicht eine umso grössere Belohnung in Zukunft bedeute. Aber die Pandemie ist kein neutraler Labor-Raum. «Wir wissen nicht genau, wie es sich entwickelt», denn im Gegensatz zum Marshmallow-Test könnten sich die Rahmenbedingungen laufend ändern.
Vielleicht gebe es trotz Geduld nicht mehr Belohnung, aber vielleicht mehr Stabilität als es ohne Zuwarten gegeben hätte. Ganz im Sinne der Psychologie: Nicht zu viel versprechen, denn enttäuschte Erwartungen wären für künftige Geduldsproben kontraproduktiv.
Walter Mischel hat später dieselben Kinder erneut untersucht und festgestellt, dass die geduldigen als Jugendliche sozial und schulisch kompetenter waren. Sie konnten mit Frustration und Stress besser umgehen und waren akademisch erfolgreicher.
Die ursprüngliche Versuchsreihe führte Mischel zwischen 1968 und 1974 durch. Berset wurde erst 1976 vier Jahre alt, hätte also auch nicht theoretisch am Experiment teilnehmen können. Doch als Politiker setzt er auf das Vermeiden von enttäuschten Erwartungen im Hinblick auf künftige, weitere Geduldsproben. Also nichts anderes als «strategisches Jagen» nach Geduld und Zustimmung – womit nicht gesagt sein soll, er sei ein tentakliges Weichtier.