Der Nationalrat ist auf den Schneck gekommen
Das Wichtigste in Kürze
- Allerlei fantasievolle Vorstösse werden im Parlament behandelt.
- Dabei müsste doch die Schweiz im Allgemeinen und die Welt im Speziellen gerettet werden.
- Macht es Sinn, stattdessen über Schnecken zu reden? Momoll. Ein Kommentar.
Sie sind die Lückenfüller in der Sessionsplanung des Nationalrats: Die «Parlamentarische Vorstösse in Kategorie IV», fein säuberlich sortiert nach zuständigem Departement. Wenn die «Standortförderung 2024-2027» fertig debattiert und trotzdem noch nicht Mittagspause ist, werden die Dutzenden von Vorstössen runtergerattert: Es sprechen Urheberin oder Urheber und der Bundesrat, fertig.
Sobald die Pause in Sichtweite kommt, wird über die bereits derart abgehakten Postulate und Motionen gebündelt abgestimmt. Das Vorgehen hat verschiedene Vorteile: Es geht schneller, jeder kann mal zu seinem Steckenpferd ein Anliegen deponieren und niemand hat zufälligerweise vor 13 Uhr einen dringenden Termin, sondern muss bleiben, bis eben abgestimmt ist.
Kommt dazu: Während auf die Abstimmungen gewartet wird, bleibt der Mehrheit des Nationalrats Zeit, in der Wandelhalle zu wandeln, sich im Bundeshaus-Café zu verpflegen bis man keine Lust auf Mittagessen mehr hat oder einem Journalisten ein viel zu langes Interview zu geben. Unnötig zu erwähnen, dass der letzte Punkt natürlich der wichtigste ist.
So viele wichtige Anliegen
Des einen Wallisers Steckenpferd sind kleine Weinkellereien, die von der Weinhandelskontrolle befreit werden sollen. Des anderen Wallisers Steckenpferd ist der Wolf, dem wackere Zivildienstleistende gegenübergestellt werden soll. Des Tessiners Steckenpferd sind die Schnecken, die in den Stand der Nutztiere erhoben werden sollen. Der Grünen und der Linken ihr Steckenpferd ist die 35-Stunden-Woche für tiefe und mittlere Löhne, wie sie zufälligerweise in den exakt gleichen Worten fordern.
Natürlich kann man überall einwenden, dass einiges gegen die Steckenpferde spricht, die weder kontrolliert werden noch Nutztiere sind, nie arbeiten und nicht einmal Zivildienst leisten müssen.
Allein schon, dass ein Walliser weniger Weinkontrollen fordert, sollte einen stutzig machen. Wenn Dorfbewohner Angst vor dem Wolf haben, würden Zivildienstleistende wohl erst recht rübis und stübis aufgefressen, schliesslich sind Angsthasen des Isegrims Leibspeise. Die 35-Stunden-Woche für tiefe und mittlere Löhne wäre diskriminierend gegenüber unschuldig zu Topverdienern verurteilten.
Schnecken als Nutztiere
Aber bleiben wir noch etwas bei den Schnecken. Klar, auch Schnecken haben Gefühle und in nur ganz seltenen Fällen sind sie falsch gewickelt. Aber mal ernsthaft: Nutztiere? Was kommt als Nächstes, etwa Glöggli um den Hals und Namen mit alphabetisch wechselnden Anfangsbuchstaben?
Ist das alles nur eine Farce, um Zivildienstleistende als Schnecken-Herdenschutz einsetzen zu können, weil Igel kleiner sind als Hasen? Na, dann warten Sie mal schön, bis ein Walliser sein neustes Steckenpferd entdeckt: die gezielte Regulierung der Igelpopulation, und zwar präventiv, nicht nur bei Problem-Igeln.
Dann kommt es natürlich wieder zum Konflikt mit dieser naturromantischen Stadtbevölkerung, die keine Ahnung hat von der Schneckenzucht. Wo doch jeder Züchter noch eine Beziehung hat zu jedem seiner Tiere. Schliesslich hat es einen Namen und ein Gesicht und jeder Name beginnt mit G. Ausser die vom letzten Jahr, die mit F, aber die Sache ist eh schon gegessen.
Und die allerwichtigste Frage: Haben wir eigentlich keine anderen Probleme zu lösen? Doch, haben wir. Wichtigere sogar, auch wenn das Georg, Gregor, Guido, Gabriel, Gian, Gustav und Gerhard jetzt nicht gerne hören. Überhaupt sind Schnecken doch Zwitter, also was soll das mit den männlichen Vornamen, aber wie sollen wir die dann nennen, aaaaaarrghhh.
Andererseits: Schnelle Schnecken
Die Sache ist nur die: Es gibt wichtigeres, wie die «Strafrahmenharmonisierung und Anpassung des Nebenstrafrechts an das neue Sanktionenrecht». Diese musste ganze neunmal im Ständerat und neunmal im Nationalrat traktandiert werden, bis sie noch je einmal für die Schlussabstimmung traktandiert wurde. Über drei Jahre verteilt.
Oder der indirekte Gegenentwurf zur Gletscher-Initiative. Der war zwar nur drei Monate im Parlament und wurde im Nationalrat nur fünfmal debattiert. Im Ständerat gar nur zweimal. Aber dann gab es in beiden Räten noch je eine Abstimmung über die Dringlichkeitsklausel und im Nationalrat zweimal einen Ordnungsantrag. Also doch wieder elfmal traktandiert und das noch vor der Schlussabstimmung.
Insofern ist der Schnecken-Nutztier-Vorstoss ein Express auf der Überholspur. Exakt fünf Minuten Debatte und maximal eine Minute Abstimmung, 146 Stimmen dafür, bald ist den Möchtegern-Schneckenzüchtern geholfen. Diese Schneckentempobolzerei überforderte gar Nationalrats-Vizepräsidentin Maja Riniker, wie sie anschliessend selbst zugeben musste.
Ein Schneck ist eben keine Strafrahmenharmonisierung, nicht einmal indirekt. Der ist verhandelt, bevor er überhaupt dran war. Der ist eben noch richtig heiss auf konkrete Resultate. Von so einer Gletscher-Initiative hat man ja dann auch nicht gegessen, von so einem züchtigen Nutztier hingegen …