Der Schweizer Landesstreik von 1918 erklärt
Das Wichtigste in Kürze
- Vom 12. bis 14. November befand sich die Schweiz nahe am Bürgerkrieg.
- 250’000 Arbeiterinnen und Arbeiter legten ihre Arbeit im Zuge des Generalstreiks nieder.
- Gefordert wurden Frauenstimmrecht, AHV, Proporzwahlsystem oder kürzere Arbeitszeiten.
Am 11. November 1918, um 5 Uhr in der Früh, unterschrieben die Delegationen der kriegsführenden Parteien den Waffenstillstand, der das Ende des Ersten Weltkrieges besiegelte. Europas alte Ordnung brach zusammen. Aus Königreichen wurden Nationalstaaten. Der deutsche Kaiser dankte ab. In Russland hatten Lenin und die Bolschewisten die Zarenfamilie niedergerungen und exekutiert. Und in der Schweiz?
«Obwohl nicht Teil der kriegsführenden Parteien, hatte die Schweiz zwischen 1914 und 1918 gelitten», erklärt der Basler Historiker Bernard Degen. Die Männer stehen im Aktivdienst an der Front, die Frauen halten die Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft am laufen. Doch die verschlossenen Grenzen sorgen bald für leere Vorratskammern: «Vor dem Krieg hatte die Schweiz einen Grossteil ihres Getreides aus Russland importiert.» Doch als die Schützengraben ausgehoben werden, versiegen die Handelsrouten.
Der Generalstreik droht
Von den knapp 4 Millionen Einwohnern in der Schweiz, leiden 700'000 Hunger. «Kantons- und Stadtregierungen versuchten mit Suppenküchen dem Lebensmittelmangel entgegen zu wirken», erklärt Degen. Doch das reicht nicht. Die Lebensmittelpreise schiessen in die Höhe, die Reallöhne sinken ins Bodenlose. Bald geht fast der ganze Lohn eines durchschnittlichen Arbeiters für das Essen weg. «So kann es nicht weitergehen», sagt sich Robert Grimm. Er sitzt für die Sozialdemokraten im Nationalrat und pflegt regen Austausch mit den Sozialdemokraten in und um Europa.
Im Februar 1918 organisiert er in Olten ein Treffen, aus dem das Oltener Aktionskomitee (OAK) hervorgeht. «Das war eine sozialdemokratische, gewerkschaftliche Vereinigung, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen wollte», sagt Degen. Erstes Traktandum: Höhere Löhne für die Arbeiterschaft und bessere Verteilung der Lebensmittel. Erfüllt der Bundesrat die Forderungen nicht, will das OAK den Generalstreik ausrufen.
Der Landesstreik rückt in weite Ferne
Doch erstmal zahlen sich Grimms zähe Verhandlungen im Parlament und mit dem Bundesrat aus:Einige Preise wurden stabilisiert. Als im Sommer eine Getreidelieferung aus den USA eintrifft, scheint die Lage endgültig entschärft. Zwar trifft sich das OAK weiterhin, allerdings weder um einen Streik, noch ein sozialistisches Regime zu planen. Die Situation der Arbeiterklasse, davon ist Grimm überzeugt, muss sich durch politische Verhandlungen ändern, nicht nur Gewalt.
Darin unterscheidet sich seine Meinung stark von jener eines gewissen Wladimir Iljitsch Lenin. Grimm hatte für den Russen gebürgt, als dieser Asyl in der Schweiz erbat. Er hatte ihn auch an verschiedenen Konferenzen getroffen und oft nächtelange Streitgespräche mit ihm geführt. Denn Lenin, anders als Grimm, war davon überzeugt, dass eine neue Weltordnung nur mit Blutvergiessen herbeizuführen wäre. Diese Vision liess er in Russland Realität werden.
Sozialistische Revolution in Helvetia?
Während der Krieg sich also dem Ende zuneigte, Lenin in Russland die Adligen meuchelte und in Deutschland und Österreich die Sozialdemokraten an die Macht kamen, blickte das Schweizer Bürgertum misstrauisch auf den Genossen Grimm. Er, mit seinen Beziehungen zu Lenin und den Menschewiki – durfte man ihm vertrauen? Oder planten er und sein Oltener Aktionskomitee längst die sozialistische Revolution in Helvetien?
«Damals war schon völlig klar, dass Grimm und Lenin ganz andere Ansichten hatten. Hier ging es in erster Linie um Macht», erklärt Degen. Dennoch misstrauen Bundesrat, Bürgerliche und Armee Grimm. Um der «roten Revolution» auf die Schliche zu kommen, schleusen die Bürgerlichen einen Spitzel an den Basler Arbeiterkongress ein, den Grimm leitet. Der Spitzel berichtet, Grimm wolle «russische Verhältnisse in der Schweiz einführen». Er plane, die Bundesräte zu verhafte und Zeughäuser und Munitionsdepots zu stürmen. «Es kommt ziemlich sicher zu einem ungeleiteten grausamen Guerilla-Bürgerkrieg», steht in seinem Bericht.
Verhandlungen statt Landesstreik
Wie der Spitzel zu diesem Schluss kam, bleibt unklar. Tatsächlich wurde in Basel mit 277 gegen 4 Stimmen entschieden, mit dem Bundesrat zu verhandeln und auf einen Generalstreik zu verzichten. Doch der Spitzelbericht heizt die Angst vor den «Roten» weiter an. Ein Fünfzeiler im «Volksrecht» führt zur Eskalation. «Jugendliche», steht da, «Benutzt die Zeit des Versammlungsverbots zu eurer Bildung, lest, arbeitet, macht Wanderungen. In Bälde wird der Platzvorstand zu einer Aktion aufrufen. Rüstet euch, reserviert den 10. November.»
Für General Wille und seinen Oberst Sonderegger ist klar: Das ist eine geheime Losung. Am 10. November will die Arbeiterschaft die Macht übernehmen. «Obwohl der Bundesrat eigentlich immer Kompromisse eingehen wollten, gewinnen die militärischen Scharfmacher die Oberhand», erklärt Degen. Von Waffenlieferungen und Geld aus Russland wird gemunkelt. «100 Jahre Forschung haben aber gezeigt: Zwischen den Schweizer Sozialdemokraten und den Russen gab es niemals einen Pakt zum Sturz der Schweizer Regierung. Das war pure Angstmacherei.» Doch der Bundesrat mobilisiert die Armee. Innert kürzester Zeit stehen 95‘000 Soldaten in Waffen.
Derweilen tagt das Oltener Aktionskomitee – wie es denkt zum letzten Mal – in Bern und bespricht seine Auflösung. Man hat die grossen Ziele erreicht: Das Volk ist wieder satt, die Löhne der Arbeiterschaft gestiegen. Im «Augenblick, da unsere Bewegung sich in einem Ruhestadium befand», trifft die Nachricht der Mobilmachung der Armee ein.
Generalstreik wider Willen
Was tun? Soll das Komitee die Mobilmachung ignorieren? Unmöglich, beschliessen Grimm und seine Genossen. Stattdessen nehmen sie die Provokation an. Wenn die Bürgerlichen das Chaos wollen, sollen sie es haben. Das OAK ruft einen 24stündigen Protest-Generalstreik aus.
«Der Bundesrat möchte verhandeln. Grimm den Streik beenden», erklärt Degen. Keiner denkt an Bürgerkrieg. Doch dann beschliessen die Zürcher Genossen eigenmächtig, den Generalstreik nach dem einen Tag nicht abzubrechen. Nun haben Grimm und das OA zwei Möglichkeiten: Der ganzen Schweiz einzugestehen, dass sie die Kontrolle über ihre Bewegung verloren haben. Oder den landesweiten Generalstreik auszurufen. Grimm entscheidet sich für letzteres. Er will sein Gesicht nicht verlieren.
«Man fordert unter anderem das Frauenstimmrecht, eine AHV, ein gerechteres Wahlsystem (Proporz, damit auch kleinere Parteien die Chance bekommen, an den Regierungsgeschäften teil zu haben) und die Kürzung der Arbeitszeit», erklärt Historiker Degen.
AHV und Frauenstimmrecht
Während drei Tagen wird in der ganzen Schweiz gestreikt. In Zürich herrschen Bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Soldaten werden mit Maschinengewehren und Handgranaten ausgerüstet. Das Volk wirft mit Steinen. Drei Arbeiter werden verletzt, ein Soldat stirbt. Aus Angst vor einem tatsächlichen Bürgerkrieg, bläst das OAK den Streik nach dem 3. Streiktag ab.
Viele seiner Genossen sind enttäuscht und schimpfen Grimm einen Feigling. Dennoch werden über die Jahre und Jahrzehnte nach und nach alle Forderungen des Oltener Aktionskomitees umgesetzt. Die Neuwahlen des Parlaments 1919 wurden erstmals unter dem Proporzwahlsystem durchgeführt. Auch die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten wurde rasch eingeführt. 1948 folgte die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).
Zuletzt – ein halbes Jahrhundert nachdem der Forderungskatalog aufgesetzt worden war – schliesslich auch das Frauenstimm- und wahlrecht. Damit hat das Oltener Aktionskomitee einige der wichtigsten politischen Veränderungen in der Schweiz des 20. Jahrhunderts vorweg genommen.
Alter Streik, neue Forderungen
Streikführer Grimm und das Oltener Aktionskomitee müssen sich nach dem Landesstreik vor Gericht verantworten. Auf ihre Karrieren allerdings hat dies keine schlechten Einfluss. Grimm beispielsweise sitzt weiterhin erst für den Kanton Zürich und später für Bern im Nationalrat. 1946 präsidiert er diesen.
Während die alten Forderungen über die Jahrzehnte umgesetzt worden sind, werden besonders bei den jungen Sozialdemokraten neue Forderungen laut.