Ex-Botschafter Guldimann: «Schweiz dreht sich im Kreis»
Das Wichtigste in Kürze
- Bundespräsident Guy Parmelin trifft heute EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
- Das Rahmenabkommen werde wohl nicht beerdigt, sagt ex-Botschafter Tim Guldimann.
- Er befürchtet aber, dass noch viel Palaver folgen werde.
Sogar seine Email-Adresse hat eine «.eu»-Domain: Der ehemalige SP-Nationalrat Tim Guldimann ist überzeugter Europäer. Von 2010 bis 2015 war er Botschafter der Schweiz in Berlin und lebt auch heute noch dort. Vom Rahmenabkommen mit der EU hält er viel, vom jahrelangen «Palaver» dagegen wenig.
Vor dem Besuch von Bundespräsident Guy Parmelin bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen blickt er für Nau.ch aus seiner Warte auf die Verhandlungen. Dabei hält er mit Kritik nicht zurück – am Bundesrat, aber auch an seiner eigenen Partei.
Nau.ch: Herr Guldimann, hat das Rahmenabkommen noch eine Chance? Je nachdem wen man fragt, geht es beim Treffen von Parmelin und von der Leyen um einen ehrenvollen Schlusspunkt, einen Rettungsversuch oder einen Neustart.
Tim Guldimann: Die Chance, dass Parmelin dort den Rahmenvertrag beerdigt, halte ich für unwahrscheinlich. Also geht wohl das Palaver weiter, auch weil die EU keine Zeitgrenze setzt. Und dabei nehmen die Probleme zu. Die Forschung fällt weg, keine neuen Verträge, und immer mehr Betroffene werden jammern.
Nau.ch: Gejammert wird ja aber schon seit Jahren. Vorwärts geht es trotzdem nicht: Mal hat die EU wegen Brexit grad keine Zeit fürs Rahmenabkommen, mal muss die Schweiz erst noch über die Kündigungsinitiative abstimmen. Es entsteht der Eindruck, es sei mehr ein Müssen als ein Wollen.
Tim Guldimann: Es wird hier immer nur gesagt, was man nicht will, aber nicht was man will. Für das, was man nicht will, findet man immer leicht Mehrheiten. So dreht man sich im Kreis, ohne zu bemerken, wie das Ausland den Kopf schüttelt.
Seit zwölf Jahren läuft diese endlose Debatte über das Rahmenabkommen, notabene wurde das ursprünglich von Bern vorgeschlagen. Alle, auch Guy Parmelin, haben betont, wie wichtig ein Nein zur Kündigungsinitiative sei. Sonst stehe der ganze Bilateralismus auf der Kippe.
Jetzt ist die Kündigungsinitiative abgelehnt, alle Argumente zur Ablehnung sind eins-zu-eins auch auf das Rahmenabkommen anwendbar. Aber die Einheit ist nicht mehr da und das Palaver geht weiter.
Nau.ch: Brüssel hat grössere Probleme und Bern ist kein einfacher Verhandlungspartner. Besteht nicht das Risiko, dass man die Flinte ins Korn wirft, weil mit einem Rahmenabkommen für die EU nicht viel zu holen ist?
Tim Guldimann: Nach der Abstimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative – ich war damals noch Botschafter der Schweiz in Berlin – wollte mich der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, dringend sehen. Er war in grosser Sorge um seine 55'000 Grenzgänger: ‹Können Sie mir sagen, dass es für sie in Zukunft kein Problem gibt?› - ‹Nein› – ‹Dann haben wir ein Problem› – ‹Ja, wir haben ein Problem›.
Auch aktuell merkt man in Süddeutschland sehr wohl, was derzeit auf dem Spiel steht. Aber es sind schleichende Prozesse, die halt nicht sofort auf den Tisch kommen.
Nau.ch: Also braucht es vielleicht doch einen Paukenschlag. Wenn schon nicht den Abbruch der Übung, dann den «Reset», den Aussenminister Ignazio Cassis mal angestrebt hatte. Tabula rasa, das Rahmenabkommen neu verhandeln.
Tim Guldimann: Das ist praktisch ausgeschlossen, höchstens Klärungen zum vorliegenden Vertragstext sind möglich. Das wird von der Leyen auch so sagen: Das ist der Vertrag, wir haben verhandelt, ihr dreht euch im Kreis. Wir können warten – es gibt keinen Zeitdruck seitens der EU.
Nau.ch: Klärungen will die Schweiz beim Rahmenabkommen in drei Punkten: Dem Lohnschutz, der Unionsbürgerrichtlinie und den staatlichen Beihilfen, also den Steuererleichterungen. Sie kennen den Diplomaten Christian Leffler sehr gut, der bei der EU für die Schweiz zuständig war. Er sieht durchaus Optionen, gerade bei den staatlichen Beihilfen?
Tim Guldimann: Er hat mir gegenüber klar gemacht, dass hier die Streitbeilegung auf der Basis des Freihandelsabkommens erfolgt. Damit könnte die EU nicht einseitig ein Verfahren gegen die Schweiz einleiten, wenn wir nicht wollen. Ich glaube, das könnte so bestätigt werden.
Nau.ch: Beim Lohnschutz sperren sich insbesondere Ihre Kreise. Da scheint wenig Verhandlungsspielraum ohne Gesichtsverlust möglich.
Tim Guldimann: Die SP und die Gewerkschaften hätten – anstatt sich gegen den Vertrag auszusprechen – sagen sollen, der Lohnschutz ist sakrosankt. Keine Konzessionen, gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, das habt ihr versprochen, die Beweislast liegt bei euch: Bundesrat und EU-Kommission.
Für die EU ist hier die Nicht-Diskriminierung entscheidend, dafür müssten halt die inländischen Kontrollen verschärft werden. So sollte der Bundesrat den Vertrag unterschreiben und falls einmal unser Lohnschutz verletzt wird, müssen wir streiten und unsere Interessen verteidigen.
Nau.ch: Also das bewährte Schweizer Modell, die flankierenden Massnahmen, der EU schmackhaft machen. Bei der Unionsbürgerrichtlinie wäre es dann umgekehrt?
Tim Guldimann: Ja, da müssten wir EU-Regeln übernehmen. Die Kosten sind gering und es wären sehr wenige Personen betroffen, die gegebenenfalls nicht ausgewiesen werden könnten. Ja, das sind negative Folgen des Vertrags für die Schweiz.
Aber es soll mir mal jemand zeigen, dass dies alles schlechter wäre als die kaum diskutierte Alternative, nämlich nach und nach vom Binnenmarkt ausgeschlossen zu werden. Ich möchte mal wissen, ob irgendjemand eine Betroffenheit spürt wegen dieser Unionsbürgerrichtlinie? Also was soll das?
Nau.ch: Als vierten Punkt hat insbesondere «Die Mitte» noch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ins Spiel gebracht. Dieser soll bei der Streitschlichtung im Rahmenabkommen ausgeschlossen werden.
Tim Guldimann: Das kann man vergessen. Das ausgehandelte Verfahren von gemeinsamem Ausschuss, Schiedsgericht, EuGH etc. – damit steht und fällt der Vertrag.
Nau.ch: Das klingt dann alles sehr einfach: Ein paar bittere Pillen auf beiden Seiten, aber auch Kompromisse und Mechanismen für jeweilige Herzensangelegenheiten. Dafür hätte man nicht zwölf Jahre gebraucht. Oder drei Jahre, seit das Rahmenabkommen an sich fertig ausgehandelt ist.
Tim Guldimann: Die Schweizer Medien sind viel zu zahm. Der Bundesrat hat fünf Jahre lang verhandelt, kommt mit dem Vertrag, den er selbst ausgehandelt hat, zurück und sagt: ‹Ich nehme ihn zur Kenntnis›. Der Bundesrat weiss selbst nicht, was er will und wirft den Vertrag wie einen Knochen den innenpolitischen Hunden vor: Da, diskutiert mal, und auf wundersame Weise soll so Klarheit entstehen. Das hat aber nur den Streit innerhalb der Parteien entfacht.