Ist der R-Wert das richtige Kriterium für den Bundesrat?
Die ETH sieht das Problem: Die Schwankungen und die Aussagekraft des R-Werts sind schwer vermittelbar. Die Politik sieht das genauso. Und der Bundesrat?
Das Wichtigste in Kürze
- Der R-Wert wurde in den letzten Tagen oft stark korrigiert.
- Forscher betonen, dass es sich lediglich um eine Schätzung handelt.
- Politiker bezweifeln indes, ob der R-Wert als Kriterium für den Bundesrat geeignet sei.
Wissenschaftliche Grundlagen sollen für die Massnahmen gegen das Coronavirus ausschlaggebend sein. Gerade beim R-Wert sagen aber auch Wissenschaftler: Vielleicht sollte man das besser nicht allzu genau nehmen. Denn der Bundesrat hat sich darauf festgelegt, dass nur ein R-Wert unter 1 weitere Lockerungen erlaubt. Ein klarer Richtwert, der alles andere als klar wird, wenn man die Sprunghaftigkeit des R-Werts in den letzten Wochen betrachtet.
Ohne Filter: R-Wert schmeckt nicht allen
Denn der R-Wert ist alles andere als präzis, sondern ein Schätzwert, der laufend mit neuen Daten nachgerechnet wird. Ungefiltert landet der von ETH-Mathematikern bestimmte Wert dann auf der BAG-Website. Keine Glättung der Kurve, keine Interpretationshilfe, keine Vorbehalte, dass «natürlich» die Datenlage über Ostern etwas dürftig war. Eine offizielle Stellungnahme war bisher von der ETH trotz wiederholten Versuchen nicht zu erhalten.
Für Forscher ist das kein Problem, denn sie sind mit den methodischen Hintergründen meist vertraut. Kuriose Kurven, die schon am nächsten Tag wieder total anders aussehen, gehören da zum Tagesgeschäft. So reagiert die Akademikerwelt mit maximal zwei hochgezogenen Augenbrauen und findet solches wie weiland Mister Spock vom Raumschiff Enterprise: «Faszinierend.» Derweil sich Politik und Bevölkerung mal über die Werte, mal über die Werte-Berechner, wundern und ärgern.
Süsse Versuchung der vorgegaukelten Scheingenauigkeit
Auch FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen betont, dass die Wissenschaft selbst auf die sehr dünne Datengrundlage rund um die Corona-Pandemie verweise. Die Fehlerbandbreite und die unterschiedliche Betroffenheit von Bevölkerungsgruppen wären für ihn ebenfalls miteinzubeziehen. «Politische Entscheidungen und die öffentliche Kommunikation dürfen nicht auf einer unsicheren Zahl basieren, die nur eine Scheingenauigkeit vorgaukelt.»
Grünen-Nationalrätin Franziska Ryser geht mit ihrem Ingenieur-Kollegen einig, denn Zahlen erweckten immer den Anschein von Objektivität und Exaktheit. Dabei gelte hier und anderswo: «Sie sind aber nur Annäherungen – und es ist schwierig, sich davon nicht verleiten zu lassen.» Taugt der R-Wert mit seiner Bandbreite von zwanzig oder dreissig Prozent für mehr als nur faszinierte Wissenschaftler?
Wasserfallen: «Nicht praxistauglich»
Den R-Wert vollends verteufeln wollen die beiden Parlamentarier nicht, aber die Rahmenbedingungen müssten stimmen. «Die Herausforderung für den Bundesrat ist, dass er die Bevölkerung nicht glauben lässt, bei Wert X werde grad sofort ein Entscheid gefällt.» Fair fände Ryser Erläuterungen, wie man erwarte, dass sich die Situation entwickle und welche Massnahmen dann ins Auge gefasst würden. «Und dann aber auch offenlegt, für wie wahrscheinlich man diese Szenarien hält, denn die Leute brauchen jetzt eine Perspektive.»
Auch Wasserfallen ist unwohl, wenn der Bundesrat einen R-Wert auf zwei Nachkommastellen definiert, ab welchem Massnahmenverschärfung in Frage kommen. «Es ist nicht praxistauglich, diese und andere Zahlen dazu zu verwenden, um automatisch Massnahmen zu ergreifen.» Doch der Bundesrat scheine dieser Herausforderung gewachsen, findet Ryser. «Man kann sicher geteilter Meinung sein über die Kommunikation des Bundesrats, aber es war bis jetzt jedenfalls nicht so schlecht.»
Besser kein R-Wert als ein ungenauer?
Aus ETH-nahen Kreisen verlautet, dass die Forscher gar etwas erschrocken seien ob der Verwendung «ihres» R-Werts durch die Politik. Dazu sei dieser eigentlich gar nicht geeignet. Sollte man diesen besser gar nicht einbeziehen und wenn, dann vielleicht nicht tagesaktuell publizieren? Nein, findet Ryser, mit Verweis auf die lange Tradition, dass Bürger informiert werden über politische Entscheidungen.
«Es wäre falsch, jetzt hier eine Ausnahme zu machen und die Zahlen vorzuenthalten. Wir sind mündig genug, die richtigen Schlüsse zu ziehen, wenn man uns erklärt, was alles mit in Betracht gezogen werden muss.» Und ja, wir sind alle keine Epidemiologen, Biostatistiker und Modellrechner. Aber: «Ich wage zu behaupten, dass wir alle beim Interpretieren von Statistiken und Grafiken im letzten Jahr viel dazugelernt haben.»