Mitte-Candinas fordert: «Landessprache first!»
In der Ostschweiz steht das Frühfranzösisch auf der Kippe. Mitte-Nationalrat Martin Candinas beobachtet dies mit Sorge. Ein Sprachwissenschaftler ordnet ein.

Das Wichtigste in Kürze
- Mehrere Ostschweizer Kantone gehen gegen den Französisch-Unterricht auf Primarstufe vor.
- Eine problematische Idee, findet Mitte-Nationalrat Martin Candinas.
- Ein Experte sagt: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es in der Frage keine klare Antwort.
Der Kantonsrat von Appenzell Ausserrhoden hat Ende März entschieden: Auf Primarstufe soll es künftig keinen Französischunterricht mehr geben.
Auch in anderen Kantonen – insbesondere in der Ostschweiz – steht das Frühfranzösisch auf der Kippe.
Das wirft primär aus zwei Gründen Fragen auf. Einerseits lernen die Kinder dadurch in der frühen Phase keine zweite Landessprache mehr.
Andererseits kommen sie auch gar nicht mehr in den Kontakt mit romanischen Sprachen. Denn Englisch ist wie Deutsch eine germanische Sprache – Französisch und Italienisch wären dagegen eben romanisch.
Mitte-Nationalrat Martin Candinas ist ein Verfechter der Schweizer Sprachenvielfalt. Der Co-Präsident der parlamentarischen Gruppe Mehrsprachigkeit sagt gegenüber Nau.ch: «Für ein erfolgreiches Zusammenleben in unserem Land ist es zentral, dass wir mehrere Landessprachen verstehen.»
Idealerweise spreche man die Sprache sogar, wichtig sei aber das Verständnis. Das Motto sollte also sein: «Jeder spricht in seiner Sprache und wird vom andern verstanden.»
Candinas verteidigt Frühfranzösisch
Dem Frühfranzösisch steht Candinas, der selbst alle vier Landessprachen beherrscht, positiv gegenüber. «Sprachen muss man so früh wie möglich erlernen», ist für ihn klar.
Als gute Beispiele nennt er die zweisprachigen Schulen der Stadt Chur. Dort gibt es ein deutsch-italienisches und ein deutsch-romanisches Angebot.
Der Bündner fordert entsprechend auch, dass Kinder spätestens in der Primarschule mit einer lateinischen Sprache in Kontakt kommen. «Je älter die Kinder sind, desto mehr Mühe bekunden sie mit dem Erlernen von Fremdsprachen. Mehrsprachige Kinder gewöhnen sich früh daran, zwischen verschiedenen Sprachsystemen hin und her zu wechseln.»

Dass das Frühfranzösisch gerade in der Ostschweiz immer mehr unter Druck gerät, bedauert Candinas. «Der Wert der Mehrsprachigkeit wird heute völlig unterschätzt. Wir müssen diesbezüglich Gegensteuer geben.»
Kinder sollten aus seiner Sicht zuerst eine Landessprache erlernen, danach erst Englisch. «Wenn es uns ernst ist mit den Landessprachen, gilt: Landessprache first!»
Englisch im Parlament? «Eine Horrorvorstellung»
Wenn man neben der eigenen Sprache nur noch Englisch kann, drohen Konsequenzen – beispielsweise im politischen Kontext.
In den Kommissionssitzungen gibt es keine Übersetzungen, im Ständerat fehlt die Simultanübersetzung im Gegensatz zum Nationalrat ebenfalls. «Wer die Landessprachen beherrscht, ist klar im Vorteil», sagt Candinas.

Im schlimmsten Fall werde man von Dolmetschern abhängig oder gar auf Englisch wechseln müssen, so der Nationalrat. «Für mich ist dies eine Horrorvorstellung, die absolut nicht zur Willensnation Schweiz passen würde.»
Oft politische, statt wissenschaftliche Entscheide
Doch was heisst das für die Kinder aus linguistischer Sicht, wenn sie nur noch eine Sprachfamilie kennenlernen?
Raphael Berthele, Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität Freiburg, sagt gegenüber Nau.ch, dass die Entwicklung zu Ungunsten des Frühfranzösischs nicht überraschend kommt. «Die Debatte schwappt immer wieder hoch, in unregelmässigen Abständen», so der Experte.
Berthele betont, dass es dabei wichtig sei, zwischen Wissenschaft und Politik zu unterscheiden. Denn wissenschaftlich gibt es oft keine klaren Erkenntnisse, welches Modell besser ist. Letztlich handelt es sich um bildungspolitische Entscheidungen.
Zuerst etwas Einfacheres oder etwas Schwierigeres lernen?
«Was wir wissen, ist, dass man verwandte Sprachen schneller und leichter lernt als weiter entfernte», sagt Berthele. Man müsse sich also die Frage stellen, ob man in der Schule mit etwas Leichterem oder etwas Schwierigerem beginnen solle. «Es gibt gute didaktische Argumente für beides.»

Allerdings ist für den Experten klar, dass man Englisch auch nicht unterschätzen sollte. «Sobald die Sprache anständig gelernt werden soll, ist auch das Englische entgegen der volkstümlichen Meinung nicht mehr einfach eine einfache Sprache.»
Aus linguistischer Sicht ist zudem festzuhalten, dass man Englisch nicht als klassische germanische Sprache abstempeln kann.
Berthele erklärt: «Das Englische ist keine sehr typische germanische Sprache. Je nach Stilregister sind zwischen 30 Prozent und sogar über 50 Prozent des englischen Vokabulars etymologisch gesehen Französisch.»
Experte findet romanische Sprachkenntnisse wichtig
Auf die Frage, ob es wichtig sei, früh mit romanischen Sprachen in Kontakt zu kommen, gebe es keine wissenschaftliche Antwort.
Persönlich findet es Berthele sinnvoll, in der Schweiz Französisch und/oder Italienisch zu lernen: «Angesichts der schweizerischen Vielsprachigkeit und der westeuropäischen Umgebung scheint es mir wichtig, romanische Sprachen zu kennen und zu können.»

Allerdings könne man nicht allgemein sagen, dass Kinder ohne romanische Sprachkenntnisse einen Nachteil haben. «Es kommt darauf an, was das spätere Leben für sie bereithält», so Berthele.
Klar ist: Die Debatte um die Sprache dürfte in der Schweiz, im mehrsprachigen Land par excellence, so schnell nicht abflachen.
Oder anders formuliert: Ob das Frühfranzösisch tatsächlich vom «Présent» zum «Passé composé» wird, zeigt sich im «Futur».