Polit-Rückblick: Volksabstimmungen 2024 haben überrascht
2024 konnte die SVP bei den kantonalen Wahlen zulegen, doch die Linke errang mehrere Abstimmungssiege. Wahl- und Abstimmungsdemokratie driften auseinander.
Das Wichtigste in Kürze
- Politologe Claude Longchamp schaut für Nau.ch zurück auf 2024.
- Im ersten Teil sind die Volksabstimmungen im Fokus.
Am 3. März wurde die gewerkschaftliche Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente mit 58 Prozent der Stimmen und 15 von 23 Ständen gegen den Willen von Parlament und Regierung angenommen. Nach einem emotional geführten Abstimmungskampf wurde erstmals mittels einer Volksinitiative der Sozialstaat ausgebaut.
Nachanalysen zeigten Ja-Stimmen nicht nur bei den linken Parteien, auch bei Rentner und Rentnerinnen jeglicher Couleur, unteren Einkommensschichten und Frauen.
Die unterlegene Seite beklagte die Anspruchshaltung der Bürgerschaft mit egoistischen Zügen. Drei Professoren und Professorinnen der Politikwissenschaft konterten und diagnostizierten ein eigentliches Politikversagen, denn die Politik sei nicht mehr willens und fähig, rechtzeitig wegweisende Kompromisse vorzulegen.
Die 13. Rente wird auf 2026 eingeführt und jeweils Ende Jahr ausbezahlt. Die Finanzierung erfolgt vorerst via AHV-Reserven, definitiv soll sie aufgrund einer Gesamtschau zu allen Sozialversicherungen beschlossen werden.
Verteilkämpfe
Im Parlament dominierten 2024 sozio-ökonomische Konflikte. Grosse Allianzen gab es kaum mehr. Eine Ausnahme hätte die Einheitliche Finanzierung im revidierten Krankenversicherungsgesetz werden können. Doch scherte die SP im Abstimmungskampf (erfolglos) aus.
Die bürgerlichen Parteien suchten meist unter Führung von SVP respektive FDP, allenfalls verstärkt durch Mitte und GLP, eine gemeinsame mehrheitsfähige Position, so bei der BVG-Reform, beim Mietrecht und dem Ausbau der Autobahnen. Anders war es beim Stromgesetz, wo die SVP ausscherte und sich Grünrot mit dem Zentrum arrangierte.
Hintergrund der vorherrschenden Polarisierung sind bürgerliche Reformprojekte wie Liberalisierung des Markts oder Effizienzsteigerung respektive Abbau des Staats, die nach dem Rechtsrutsch von 2023 offensiv vorgetragen werden.
Ungewöhnlich war auch das Ergebnis der Volksabstimmung über den Autobahnausbau. Dieser wurde mit 53 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Die Gegner argumentierten erfolgreich, das Projekt sei nicht nachhaltig, denn es würde Mehrverkehr nach sich ziehen.
Ende 2024 fiel die Bilanz der nationalen Behörden bei Volksabstimmungen bescheiden aus. Zweimal waren sie mit eigenen Vorlagen in der Mehrheit, nämlich beim Stromgesetz und der Krankenkassenreform EFAS. Doppelt so häufig unterlagen sie: bei der BVG-Reform, dem Mietrecht (Eigenbedarf und Untermiete) und dem erwähnten Autobahnausbau.
Wie so oft scheiterten fünf weitere Volksinitiativen aus den Reihen der Jungfreisinnigen, der Mitte, der SP, der Grünen und der Corona-Opposition.
So stimmten 2024 die Parolen der Grünen respektive der SP am häufigsten mit der Mehrheit überein, gefolgt von jenen der GLP, der FDP und der Mitte. Am häufigsten unterlag die SVP. In den vorangegangenen Legislaturperioden waren Parteien aus dem Zentrum, so die FDP, CVP und GLP, am erfolgreichsten.
Nationale Wahlanalyse
Die Selects-Studie zu den eidgenössischen Wahlen 2023 erklärte den Wahlsieg der SVP mit einer verbesserten Mobilisierung des eigenen Potenzials, aktiviert durch Sorgen rund um Asyl und Zuwanderung. Die SP konnte angesichts neuer sozio-ökonomischer Probleme besonders bei den unter 25-Jährigen Wähleranteile von den Grünen und Grünliberalen (zurück)gewinnen.
Der erste amtliche Bericht zu den Wahlkampfausgaben bezifferte die Ausgaben auf 54,6 Millionen Franken für den Wahlkampf. Den teuersten Parteien-Wahlkampf führte die FDP, gefolgt von der SVP.
Neue Wahlprognosen
Das Wahlbarometer im Jahr eins nach den eidgenössischen Wahlen bestätigte die starke elektorale Stellung der SVP. Gemäss Sotomo könnte sie nochmals um zwei Prozentpunkte zulegen und auf einen neuen Rekordwert kommen. Am ehesten etwas verlieren würde die GLP, während alle anderen Parteien praktisch unverändert blieben.
Der grosse Trend legt nahe: Trotz negativer Rekordwerte beim Klimawandel ist die «Grüne Welle» nach 2019 als politische Grosswetterlage definitiv vorbei und einer nationalkonservativen Grundströmung gewichen. Mit dem neuen Zeitgeist kommen schweizerische Traditionen und rechte Wirtschaftsrezepte wieder auf. Progressive Gesellschaftspolitik und linke Wirtschaftsprogramme bleiben aber in den grösseren Städten führend.
Kantonale und städtische Wahlen
Bei kantonalen Wahlen gab es am meisten Sitzgewinne für die SVP. Leicht positiv war auch die SP-Bilanz, namentlich durch eine Parteifusion im Kanton Schaffhausen. Stabil waren die Mitte und die EVP; leichte Verluste gab es für die GLP, grössere für die FDP und die Grünen. Nur der FDP gelang es ausgehend von Aargau und Schaffhausen eine Trendwende einzuleiten.
Verschiedentlich wurden Stadtpräsidien spektakulär abgewählt, so in Bern, Chur und Rapperswil-Jona Amtsinhaber. Betroffen waren die Parteien der Grünen, Mitte und die FDP.
In der Bundesstadt wurde die rotgrüne Mehrheit in der Stadtregierung erneut bestätigt. Neu nimmt die GLP statt der Mitte Einsitz im Berner Gemeinderat (Exekutive). Stadtpräsidentin wird ab 2025 Marieke Kruit von der SP. Bern bleibt auch die Stadt der Schweiz mit dem höchsten Frauenanteil in einem Parlament.
Mutterparteien
Die SVP hat mit Marcel Dettling einen neuen Präsidenten. Er betonte, Abweichungen von der erfolgreichen Linie werde es nicht geben. Zentrale Ursache für die heutigen Probleme sei die Zuwanderung. Das müsse geändert werden.
Die FDP will sich mit pointiert liberalen Rezepten für die Gesellschafts-, Wirtschafts- und Infrastruktur punkten. Zudem pflegt sie neuerdings einen polarisierten Diskurs. Der SVP wirft sie vor, öfters nach links abzuweichen.
Die Mitte will mit einem zweiten Strategie-Projekt ausgehend vom Zentrum konstruktive Politik auf der Basis bürgerlicher Werte und soziale Verantwortung vorantreiben. Einer Fusion mit der GLP erteilten beide Parteien eine Absage.
Unter dem neuen Präsidium von Lisa Mazzone hoffen die Grünen, die progressive Zukunftslust zu stärken. Angekündigt wurde auch mehr Opposition, denn es soll eine Legislatur der Referenden geben.
Jungparteien
Der Jungen SVP wurden rechtsextreme Kontakte nachgesagt, der Juso antisemitische Bindungen. Konsequenzen hatte das für die Jungparteien nicht.
Ihre Zukunftsinitiative wurde aus Wirtschaftskreisen scharf attackiert. Grund war die Rückwirkungsklausel bei der vorgesehenen Erbschaftssteuer. Sie führe zu einer Flucht reicher Steuerzahler. Verlangt wird, dass das Parlament diesen Teil der Initiative für ungültig erklärt.
Kulturkämpfe
Kulturkonflikte rund um Identitäten brachen verschiedentlich in der deutschsprachigen Öffentlichkeit auf. Die SVP auf der einen, die Grünen auf der anderen Seite bilden meist die Pole. Von rechts her wird das meist als «woke» Politik, importiert aus den USA, bezeichnet und abgelehnt.
Reizthemen waren namentlich die politisch korrekte Sprache und religiös gefärbte Kontroversen. Stark umstritten sind auch LGBTQ+-Rechte und Massnahmen zu deren Gleichstellung, aber auch islamistische Aktivitäten. Meist wird mit stark negativen Fremdbildern Stimmung gemacht.
Affektive polarisierte Antipathien für Gruppen oder Menschen sind zum öffentlichen Thema geworden. Pro Futuris zeigte ausgehend von der SVP-Wählerschaft vor allem in Zuwanderungsfragen unversöhnliche Standpunkte. Es gibt sie aber auch bei den Pandemiemassnahmen, angeführt von der GLP.
In der Stadt Zürich scheiterte eine SVP-nahe Initiative mit einem Verbot der genderneutralen Sprache für die Verwendung. Es soll der weltweit erste Volksentscheid in dieser Sache gewesen sein.
Im Eurovision Song Contest errang die Schweiz mit Nemo den ersten Platz. 2025 richtet die Stadt Basel den ESC aus. Ein Referendum dagegen aus religiös-fundamentalistischen Kreisen scheitert im Stadtkanton klar.
Mit dem bewusst non-binären Auftritt des Bieler Sängers entbrannte eine Kontroverse rund um die Eintragung des dritten Geschlechts. Die Behörden lehnten das ab, ebenso die Weglassung des Geschlechts im Pass.