Taskforce-Chef: Hunderttausende waren mit Coronavirus infiziert!
Senioren stecken sich kaum mehr mit dem Coronavirus an. Taskforce-Chef Matthias Egger appelliert dennoch an Junge, auf Altersheim-Besuche zu verzichten.
Das Wichtigste in Kürze
- Seit Wochen stecken sich primär Junge mit dem Coronavirus an, Risikogruppen nicht.
- Taskforce-Chef Matthias Egger rechnet mit weiteren Toten – und appelliert an die Vorsicht.
- Rekruten-Tests würden auf eine hohe Dunkelziffer deuten – Herdenimmunität sei kein Thema.
Das Coronavirus ist zurück im Land. Seit Wochen stecken sich aber fast nur noch junge Menschen an. Woran liegt das? Und was bedeuten die 38 positiv getesteten Rekruten für die Corona-Dunkelziffer?
Im Interview geht Epidemiloge Matthias Egger auf die drängendsten Fragen ein. Der Professor für Epidemiologie und öffentliche Gesundheit an der Uni Bern ist Präsident des Nationalen Forschungsrats und leitet die Corona-Taskforce des Bundes.
Nau.ch: Herr Egger, das Coronavirus trifft seit Wochen fast nur die junge, gesunde Generation. Ist das ein gutes Zeichen?
Matthias Egger: Nicht unbedingt. Ende Februar hatten wir ein ähnliches Bild. Jüngere Leute hatten das Virus damals aus dem Ausland eingeschleppt. Zwei Wochen später war dann vor allem die ältere Population betroffen.
Die Gefahr besteht, dass nun das Gleiche wieder passiert. Die Sterblichkeit ist bei Senioren um ein Vielfaches höher, deshalb müssen wir alle dazu beitragen, sie zu schützen. Die Anzahl Patienten auf den Intensivstationen hat bereits wieder leicht zu genommen und ich befürchte, dass es auch wieder Todesfälle geben wird.
Nau.ch: Das heisst, dass Jüngere ihre Eltern und Grosseltern nicht mehr besuchen sollten?
Matthias Egger: Junge Menschen, die viel unterwegs sind in Bars und Clubs, sollten wieder vorsichtiger werden und von Besuchen im Altersheim absehen. Grundsätzlich ist es im Moment nicht empfehlenswert, in Discos zu gehen. Ich appelliere im Namen der Science Task Force an alle, bis auf weiteres darauf zu verzichten.
«Nicht am Montag in Testcenter rennen!»
Nau.ch: Also stammen die Ansteckungen mit dem Coronavirus fast alle aus dem Nachtleben?
Matthias Egger: Das ist sicherlich einer der Hauptfaktoren für die neuen Fälle. Darauf deuten auch die Superspreader-Events hin. Wenn Kantonsarzt Rudolf Hauri sagt, er wisse von weiteren Fällen, erstaunt mich das nicht.
Doch die Datenlage ist immer noch nicht gut. Noch etwas: Wer am Wochenende in der Disco war, soll bitte nicht am Montag in ein Testcenter rennen. Es dauert etwa fünf Tage, bis das Virus nachgewiesen werden kann. Das Gemeine an diesem Coronavirus ist aber, dass bereits während dieser fünf Tage andere Menschen angesteckt werden können.
«Sind weit entfernt von Herdenimmunität bei Coronavirus»
Nau.ch: Die Armee hat alle neuen Rekruten getestet. 0,3 Prozent von ihnen waren positiv – und zwar ohne Symptome. Was heisst das?
Matthias Egger: Diese Testresultate sind beunruhigend, aber auch sehr wertvoll. Die Armee sollte nun herausfinden, wo sich die 38 Rekruten angesteckt hatten und wie viele doch noch Symptome entwickeln werden. Und selbstverständlich müssen die Kontakte nachverfolgt werden.
Diese Fälle unter jungen, gesunden Menschen deuten auf eine hohe Dunkelziffer hin. Kombiniert mit Zahlen aus dem Kanton Tessin, wo rund jeder zehnte infiziert war, lässt sich sagen: Hunderttausende waren seit dem Ausbruch einmal infiziert. Dennoch ist die Schweiz noch weit entfernt von einer Herdenimmunität. Für eine solche bräuchte es noch mehrere weitere Wellen, mit vielen Todesfällen.
Nau.ch: Bestätigen die Armee-Zahlen auch die Theorie, dass sehr viele Infizierte gar keine Symptome zeigen?
Matthias Egger: Die Science Task Force hat hierzu ein Arbeitspapier publiziert. Aktuell gehen wir von etwa 15 Prozent aus, bei denen die Infektion komplett asymptomatisch verläuft. Bei Kindern ist der Anteil möglicherweise höher. Das Problem ist aber eher, dass viele Menschen nur milde Symptome haben und sich deshalb nicht testen lassen. Ansteckend sind sie aber trotzdem.
«Ich würde allen die Grippe-Impfung empfehlen»
Nau.ch: Was auffällt: In den letzten drei Wochen haben sich deutlich mehr Männer als Frauen angesteckt. Liegt das am Verhalten oder am Coronavirus?
Matthias Egger: Am Verhalten. Männer sind im Durchschnitt risikofreudiger als Frauen. Oder anders formuliert: weniger gesundheitsbewusst oder vorsichtig. Das zeigt sich zum Beispiel auch beim Autofahren oder beim Sport. Das Virus selbst unterscheidet nicht zwischen Männlein und Weiblein.
Nau.ch: Der Kanton Tessin startet eine Offensive für mehr Grippe-Impfungen. Würde das auch national Sinn machen im Kampf gegen eine zweite Welle des Coronavirus?
Matthias Egger: Ja, das ist absolut der richtige Weg. Wir arbeiten in der Task Force ebenfalls an Empfehlungen. Gerade für die bekannten Risikogruppen macht eine Impfung extrem viel Sinn. Grundsätzlich würde ich gerade dieses Jahr allen Bürgerinnen und Bürgern eine Grippe-Impfung empfehlen, aber...
Nau.ch: ...dafür gibt es nicht genügend Impfungen.
Matthias Egger: Ganz genau, da liegt wohl das Problem. Laut der letzten Gesundheitsbefragung betrug die Abdeckung der Risikogruppen nur etwa 35 Prozent, gemäss WHO wären 75 Prozent ein wünschbarer Wert.
Der wird mit den verfügbaren Dosen kaum erreichbar sein. Wir hoffen, dass bis im Spätherbst Tests verfügbar sind, die Covid-19 und Influenza gleichzeitig erkennen können. So können die richtigen Massnahmen rasch getroffen werden.
Nau.ch: Stand heute: Wird die Schweiz eine zweite Welle verhindern können?
Matthias Egger: Ich bin überzeugt, dass das möglich ist, ja. Die tiefen Fallzahlen vom Sonntag und Montag machen Mut.
Leider deuten die epidemiologischen Indikatoren aber weiterhin auf ein exponentielles Wachstum hin und deshalb sind wir weit weg von einer Entwarnung. Wenn sich aber jeder und jede an die Hygiene und Distanzregeln hält und die Hotspots meidet, können wir es kombiniert mit der Maskenpflicht im ÖV schaffen.