Warum ist ein Ampel-Chaos wie in Deutschland bei uns nicht möglich?
Die Ampelkoalition Deutschlands ist gescheitert, Neuwahlen sind geplant. In der Schweiz ein undenkbares Szenario, trotz Regierung mit sogar vier Parteien.
Das Wichtigste in Kürze
- In der Schweiz gibt es Neuwahlen nur alle vier Jahre und keine scheiternden Koalitionen.
- Dafür kennt man hierzulande die Konkordanz. Doch ist das wirklich besser?
- Polit-Analyst Mark Balsiger ordnet ein.
Deutschland wird bald eine neue Regierung haben, denn in rund drei Monaten finden Neuwahlen statt. Vorangegangen sind turbulente Zeiten, turbulent geht es weiter und wer weiss: Vielleicht bleibt es auch nach dem 23. Februar, wenn der neue Bundestag gewählt ist, weiterhin turbulent.
Höchstwahrscheinlich wird es dann nicht noch einmal eine Ampel-Koalition geben. Dass diese nicht funktioniert hat, hat am Ende niemanden mehr überrascht. Aus der Schweiz blickt man derweil fasziniert nach Deutschland: Wir haben nie Neuwahlen, keine Ampel-Koalition, aber auch kein Ampel-Chaos.
Warum eigentlich nicht? Schliesslich sitzen in der Schweizer Regierung zwei Schwesterparteien derjenigen, die sich in Deutschland verkrachten: SP und FDP. Noch viel unüberbrückbarer Differenzen müsste es im Bundesrat doch wohl zwischen SP und SVP geben.
Um es noch komplizierter zu machen, hat die Schweizer Ampel nicht nur drei, sondern – dank der Mitte-Partei – sogar vier Farben.
Gemeinhin wird in solchen Fällen argumentiert: Die Schweiz hat halt kein Regierungs-Oppositionssystem, sondern Konkordanz und Kollegialität. Nau.ch wollte von Polit-Analyst Mark Balsiger wissen, ob das wirklich so einfach sei. Ist es nicht – denn Konkordanz und Kollegialität muss man auch erst einmal können.
Nau.ch: Die Schweiz kennt keine Regierungskrisen, wie wir sie aktuell gerade in Deutschland täglich mitverfolgen können. Liegt es alleine an der Konkordanz, beziehungsweise der Kollegialregierung?
Mark Balsiger: Die Schweiz legte einen langen Weg zurück, bis sich die Konkordanz und das Kollegialitätsprinzip durchsetzen konnten. Während die allermeisten Länder sich über eine gemeinsame Sprache definieren, wurde die viersprachige Schweiz zu einer Willensnation.
Zuerst die Grossmachtgelüste des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck in den 1870er-Jahren, später der Erste Weltkrieg – die Gefahren von aussen schweissten unser kleines Land zusammen.
Dieser Wille auf der einen und die Sensibilität für Minderheiten auf der anderen Seite legten die Basis für die Konkordanz: Das Bestreben, gemeinsam und über Parteigrenzen hinweg Lösungen zu finden. In den meisten anderen Ländern kennt man diese Konsenskultur nicht. Wer in der Regierung ist, entscheidet, die Opposition profiliert sich mit Kritik.
Die Ampel-Koalition in Deutschland mit drei Parteien hat sich zusammengerauft und auf Basis eines Vertrags, der über 100 Seiten umfasst, ein Programm zurechtgelegt. Auf die Dauer war zwischen der FDP und den Grünen zu viel Differenz und deshalb zu viel Spannung drin.
Der Bundesrat sammelt seit 1891 Erfahrungen damit, dass mehrere Parteien in der Landesregierung vertreten sind. Das bedingt Rücksichtnahme, Verhandlungsgeschick und Kompromisse. Und alle wissen, dass bei vielen Themen am Schluss das Volk entscheidet. Auch das gibt es in Deutschland und den allermeisten anderen Ländern nicht.
Nau.ch: Auch in der Schweiz gibt Solo-Läufe von Bundesräten, wenn auch meist nicht ganz so dreist wie von FDP-Chef Christian Lindner. Warum hält das System dies aus? Was passiert, wenn sich bei uns mal jemand nicht an die (ungeschriebenen) Spielregeln hält?
Mark Balsiger: Das politische System der Schweiz ist sehr belastbar. Das liegt an den beiden Parlamentskammern, die sehr unterschiedlich ticken. Es liegt daran, dass die vier grössten Parteien im Bundesrat vertreten sind, also niemand durchregieren kann.
Solo-Läufe gibt es immer mal wieder. Sie werden aber geahndet, das heisst ein übermotiviertes Mitglied wird zurückgepfiffen beziehungsweise es läuft bei der Abstimmung in der Landesregierung auf. Die Verhaltensregeln in der Öffentlichkeit wiederum sind in einem Memorandum geregelt.
Nau.ch: Aber müsste man nicht auch eingestehen: Das Schweizer System ist auch nicht perfekt. Wegen der Konkordanz und der direkten Demokratie kommt es in der Regierung nicht zum Bruch, sondern es entstehen faule Kompromisse.
Diese werden dann aber vom Stimmvolk versenkt, wie zuletzt die BVG-Reform. Ist das dann besser als in einem Regierungs-Oppositions-System?
Mark Balsiger: Viele Kompromisse wurden über Jahre hinweg errungen, was bedeutet, dass in der Schweiz nur kleine Schrittchen möglich sind. Deshalb wird unser System als unspektakulär bezeichnet. Erhebungen auf eine lange Zeitspanne hinaus zeigen aber, dass die Schweiz damit besser vorankommt als Länder, die regelmässige Regierungswechsel haben.
Seit Jahrzehnten wird in der Schweiz immer mal wieder darüber diskutiert, ob man das System verändern sollte, beispielsweise mit einem Bundesrat ohne SVP oder ohne SP.
Beide Parteien wissen sehr gut, dass sie unter dem Strich mehr bewirken, wenn sie Teil der Regierung sind, als in den harten Oppositionsbänken zu sitzen.
Die partielle Opposition, die sowohl SP als auch SVP pflegen, bringt ihnen mehr. Die anderen Parteien wiederum wissen, dass eine Polpartei in der Opposition noch viel mehr Lärm und Frustration mit sich bringen würde als eine mehrheitlich eingebundene.