Warum ist ein Ampel-Chaos wie in Deutschland bei uns nicht möglich?

Matthias Bärlocher
Matthias Bärlocher

Bern,

Die Ampelkoalition Deutschlands ist gescheitert, Neuwahlen sind geplant. In der Schweiz ein undenkbares Szenario, trotz Regierung mit sogar vier Parteien.

Christian Lindner Ampelkoalition
Der FDP-Parteivorsitzender Christian Lindner gibt nach seiner Entlassung durch Bundeskanzler Olaf Scholz ein Statement ab, am 6. November 2024. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • In der Schweiz gibt es Neuwahlen nur alle vier Jahre und keine scheiternden Koalitionen.
  • Dafür kennt man hierzulande die Konkordanz. Doch ist das wirklich besser?
  • Polit-Analyst Mark Balsiger ordnet ein.

Deutschland wird bald eine neue Regierung haben, denn in rund drei Monaten finden Neuwahlen statt. Vorangegangen sind turbulente Zeiten, turbulent geht es weiter und wer weiss: Vielleicht bleibt es auch nach dem 23. Februar, wenn der neue Bundestag gewählt ist, weiterhin turbulent.

Höchstwahrscheinlich wird es dann nicht noch einmal eine Ampel-Koalition geben. Dass diese nicht funktioniert hat, hat am Ende niemanden mehr überrascht. Aus der Schweiz blickt man derweil fasziniert nach Deutschland: Wir haben nie Neuwahlen, keine Ampel-Koalition, aber auch kein Ampel-Chaos.

Bundesratsfoto 2024 Konkordanz Kollegialitätsprinzip
Das Bundesratsfoto 2024 mit (v.l.n.r.) Bundeskanzler Viktor Rossi (GLP), dem Bundesratsmitgliedern Elisabeth Baume-Schneider (SP), Ignazio Cassis (FDP), Karin Keller-Sutter (FDP), Bundespräs - keystone

Warum eigentlich nicht? Schliesslich sitzen in der Schweizer Regierung zwei Schwesterparteien derjenigen, die sich in Deutschland verkrachten: SP und FDP. Noch viel unüberbrückbarer Differenzen müsste es im Bundesrat doch wohl zwischen SP und SVP geben.

Um es noch komplizierter zu machen, hat die Schweizer Ampel nicht nur drei, sondern – dank der Mitte-Partei – sogar vier Farben.

Gemeinhin wird in solchen Fällen argumentiert: Die Schweiz hat halt kein Regierungs-Oppositionssystem, sondern Konkordanz und Kollegialität. Nau.ch wollte von Polit-Analyst Mark Balsiger wissen, ob das wirklich so einfach sei. Ist es nicht – denn Konkordanz und Kollegialität muss man auch erst einmal können.

Mark Balsiger
Mark Balsiger ist Polit-Analyst und Buchautor. - zVg

Nau.ch: Die Schweiz kennt keine Regierungskrisen, wie wir sie aktuell gerade in Deutschland täglich mitverfolgen können. Liegt es alleine an der Konkordanz, beziehungsweise der Kollegialregierung?

Mark Balsiger: Die Schweiz legte einen langen Weg zurück, bis sich die Konkordanz und das Kollegialitätsprinzip durchsetzen konnten. Während die allermeisten Länder sich über eine gemeinsame Sprache definieren, wurde die viersprachige Schweiz zu einer Willensnation.

Zuerst die Grossmachtgelüste des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck in den 1870er-Jahren, später der Erste Weltkrieg – die Gefahren von aussen schweissten unser kleines Land zusammen.

Dieser Wille auf der einen und die Sensibilität für Minderheiten auf der anderen Seite legten die Basis für die Konkordanz: Das Bestreben, gemeinsam und über Parteigrenzen hinweg Lösungen zu finden. In den meisten anderen Ländern kennt man diese Konsenskultur nicht. Wer in der Regierung ist, entscheidet, die Opposition profiliert sich mit Kritik.

Bundesverfassung Schweizerische Eidgenossenschaft Bundesarchiv
Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848, fotografiert am Freitag, 29. März 2019 im Bundesarchiv in Bern. - Keystone-SDA/Bundesarchiv/EDI/Peter Klaunzer

Die Ampel-Koalition in Deutschland mit drei Parteien hat sich zusammengerauft und auf Basis eines Vertrags, der über 100 Seiten umfasst, ein Programm zurechtgelegt. Auf die Dauer war zwischen der FDP und den Grünen zu viel Differenz und deshalb zu viel Spannung drin.

Der Bundesrat sammelt seit 1891 Erfahrungen damit, dass mehrere Parteien in der Landesregierung vertreten sind. Das bedingt Rücksichtnahme, Verhandlungsgeschick und Kompromisse. Und alle wissen, dass bei vielen Themen am Schluss das Volk entscheidet. Auch das gibt es in Deutschland und den allermeisten anderen Ländern nicht.

Stimmunterlagen
Stimmunterlagen der Eidgenössischen Volksabstimmung vom 7. März 2021, aufgenommen am 25. Februar 2021 in Zürich. - Keystone

Nau.ch: Auch in der Schweiz gibt Solo-Läufe von Bundesräten, wenn auch meist nicht ganz so dreist wie von FDP-Chef Christian Lindner. Warum hält das System dies aus? Was passiert, wenn sich bei uns mal jemand nicht an die (ungeschriebenen) Spielregeln hält?

Mark Balsiger: Das politische System der Schweiz ist sehr belastbar. Das liegt an den beiden Parlamentskammern, die sehr unterschiedlich ticken. Es liegt daran, dass die vier grössten Parteien im Bundesrat vertreten sind, also niemand durchregieren kann.

Solo-Läufe gibt es immer mal wieder. Sie werden aber geahndet, das heisst ein übermotiviertes Mitglied wird zurückgepfiffen beziehungsweise es läuft bei der Abstimmung in der Landesregierung auf. Die Verhaltensregeln in der Öffentlichkeit wiederum sind in einem Memorandum geregelt.

Bundeshaus
Das Sitzungszimmer des Bundesrats im Bundeshaus West. (Archivbild) - keystone

Nau.ch: Aber müsste man nicht auch eingestehen: Das Schweizer System ist auch nicht perfekt. Wegen der Konkordanz und der direkten Demokratie kommt es in der Regierung nicht zum Bruch, sondern es entstehen faule Kompromisse.

Diese werden dann aber vom Stimmvolk versenkt, wie zuletzt die BVG-Reform. Ist das dann besser als in einem Regierungs-Oppositions-System?

Mark Balsiger: Viele Kompromisse wurden über Jahre hinweg errungen, was bedeutet, dass in der Schweiz nur kleine Schrittchen möglich sind. Deshalb wird unser System als unspektakulär bezeichnet. Erhebungen auf eine lange Zeitspanne hinaus zeigen aber, dass die Schweiz damit besser vorankommt als Länder, die regelmässige Regierungswechsel haben.

Seit Jahrzehnten wird in der Schweiz immer mal wieder darüber diskutiert, ob man das System verändern sollte, beispielsweise mit einem Bundesrat ohne SVP oder ohne SP.

Beide Parteien wissen sehr gut, dass sie unter dem Strich mehr bewirken, wenn sie Teil der Regierung sind, als in den harten Oppositionsbänken zu sitzen.

Die partielle Opposition, die sowohl SP als auch SVP pflegen, bringt ihnen mehr. Die anderen Parteien wiederum wissen, dass eine Polpartei in der Opposition noch viel mehr Lärm und Frustration mit sich bringen würde als eine mehrheitlich eingebundene.

Kommentare

Scherrba

Die Schweiz läuft ja ständig Richtung Deutschland!?? Warum, weiss kein Mensch! Was genau an einer Anbindung, oder wohl eher einer Anleitung an die EU so attraktiv ist, kann das Schweizer Volk nicht sehen. Der Souverän will das nicht!!! Der heutige BR ist längst nicht mehr dem Volk verpflichtet. Das wird ebenfalls in einem Desaster enden. Denn die Menschen wachen zuhauf auf und machen nicht mit!

User #3367 (nicht angemeldet)

Diese Erklärung sollten mal viele der CH-Motzer lesen. Eventuell würden die dann auch mal ein wenig demütiger denken. Uns geht es echt recht gut. Schätzen was man hat ! Im Grossen wie im Kleinen.

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