Was uns ein halb leerer Nationalratssaal sagen will

Matthias Bärlocher
Matthias Bärlocher

Bern,

Das Selfie im fast leeren Nationalratssaal: Taugt es als Nachweis, dass man die Stellung hält und andere nicht? Ein Kommentar.

Nationalratssaal Sondersession
Blick von der Zuschauertribüne in den Nationalratssaal während der Sondersession, am Mittwoch, 3. Mai 2023. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Ein Selfie-Schlagabtausch im Nationalrat zeigt: Es ist fast niemand im Saal.
  • Missstand oder Missverständnis? Ein Kommentar.

Es ist Sondersession des Nationalrats, was vor allem heisst: Es passiert nicht sehr viel. Was etwas ironisch ist, denn im Gegensatz zur ausserordentlichen Session vor einem Monat findet die Sondersession genau deswegen statt: Weil viel zu viel passiert.

Die Sondersession gibt es seit Jahrzehnten jedes Jahr, weil der Nationalrat sonst gar nicht alle Vorstösse abarbeiten könnte. Im Fünf-Minuten-Takt werden die Dutzenden Anträge durchgehechelt, abgestimmt wird dann am Schluss. Je später der Nachmittag, desto spärlicher die Zuhörerschaft. Wenn der Nachmittag bis um 21:30 Uhr dauert, sieht der Saal so aus, wie ihn SVP-Fraktionspräsident Thomas Aeschi via Twitter-Selfie präsentiert: trostlose Leere.

Selfie-Schlagabtausch quer durch den Nationalratsaal

Gewiefter Politiker, der er ist, holt Aeschi aus der Trostlosigkeit das Beste heraus: Mit Parteipräsident Marco Chiesa lacht er fröhlich in die Smartphone-Linse. Wenigstens ist jetzt gehobene Stimmung im Saal. Oder wenigstens rechts der Mitte. Denn Aeschis Kommentar, nur die SVP halte mit Partei- und Fraktionspräsident die Stellung, löst bei SPlerin Ada Marra eher Griesgram aus.

Thomas Aeschi Marco Chiesa
Sag mir, wo die Präsidenten sind – wo sind sie geblieben? SVP-Fraktionspräsident Thomas Aeschi wittert Gefahr und hält die Stellung. - Screenshot Twitter

Mit Gegenschuss von der anderen Saalseite her «beweist» sie, dass Chiesa unterdessen auch nicht mehr im Saal ist und auch sonst kaum jemand aus der SVP. Oder sonst irgendeiner Partei. Die Demokratie am Ende oder taugen nicht einmal Handy-Fotos von gewählten Volksvertretenden als Beweismittel?

SP vergibt Vorsprung von einem halben Punkt

Zweiteres: Es ist wohl korrekt, dass ausser Aeschi und Chiesa kein Parteiführungsorgan im Saal war. Das dürfte aber nichts mit dem vorgezogenen Apéro oder Desinteresse zu tun haben. Auch hat es für die Demokratie nicht fünf vor zwölf geschlagen, wie ein Augenschein heute Vormittag um zwei vor elf zeigt. Abgesehen davon, dass Uhren erst zur vollen Stunde schlagen und nicht fünf Minuten vorher.

Ada Marra Selfie
Wenn Nationalräte nur noch via Twitter kommunizieren: Ada Marra (SP) hat einen anderen Blickwinkel. - Screenshot Twitter

Um 10:58 waren drei Viertel der Nationalräte abwesend, auch Thomas Aeschi. In Sachen Partei- und Fraktionspräsidenten kann nur die SP einen halben Punkt verbuchen, mit der Person von Co-Präsident Cédric Wermuth. Den müssen wir aber leider auch gleich wieder abziehen, denn Wermuth beschäftigt sich primär mit seinem Laptop oder tratscht mit einer Nationalratskollegin (SP/LU). Neun Minuten später verlässt auch Wermuth den Saal.

Mitte-Präsident Gerhard Pfister steht indes nur wenige Meter ausserhalb der Saaltüren und unterhält sich mit einem Journalisten. Das dient zumindest in der Theorie der Demokratie. FDP-Präsident Thierry Burkart ist Ständerat und darum gar nicht im Aufgebot. Insofern hätte eigentlich Ständeratskollege Marco Chiesa genauso wenig im Nationalratsaal zu suchen.

SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann hat für seine Abwesenheit die gleiche Ausrede wie FDP-Fraktionspräsident Damien Cottier. Kann das Zufall sein? Kann, ist es aber nicht: Die beiden hatten offenbar eine gemeinsame Besprechung. Was, Sie ahnen es, theoretisch der Demokratie dient. Im Gegensatz zu Selfie-Fights.

Jeder kann die Stellung halten

Lies: Sowohl ein Selfie wie ein journalistischer Augenschein taugen als Massstab für den Arbeitsethos der Politiker und den Zustand der Demokratie. Je nachdem, wie ernst das eine oder andere gemeint war, ist es höchstens Kindergarten. Denn die Kindergärtler der «Schwiizergoofe» können das auch: Ein Selfie im Nationalratssaal und alle Politiker fehlen, ausser Nationalratspräsident Martin Candinas, und der macht nicht mal mit.

Schwiizergoofe Martin Candinas Nationalratssaal
Der Kinderchor «Schwiizergoofe» und Nationalratspräsident Martin Candinas posieren für den Fotografen, am 15. April 2023 im Nationalratssaal. - keystone

Aussagekräftig ist das nicht. Relevant ist der Kontext: Es war «Tag der offenen Tür» und ausserdem Samstag. Oder: Abgestimmt haben dann doch noch 186 von 200 Nationalräten, vier waren entschuldigt und «nur» neun abwesend, davon fünf aus der SVP.

Oder: Natürlich ist der Saal halb leer, weil man auf dem Bild nicht sieht, dass die Mittagspause erst in 10 Minuten vorbei ist. «Die Stellung halten» und ein Selfie machen kann jeder – doof grinsen ist optional.

Stellung halten
Nau.ch-Redaktor Matthias Bärlocher hält die Stellung für die Demokratie. Sonst ist fast niemand anwesend. - Nau.ch

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