Die Angst bleibt in Chemnitz
Das Wichtigste in Kürze
- Mit dem Solidaritätskonzert #wirsindmehr gingen die Proteste in Chemniz zu Ende.
- Die deutsche Politik brauche neue, eigene Themen, statt jene der AfD, sagen Experten.
- Die Demonstranten als «besorgte Bürger» zu bezeichnen, wäre Verharmlosung.
In der vergangenen Woche wurde Chemnitz von einer Stadt zur Metapher. #Chemnitz - für die Einen war es der letzte Tropfen in ein Fass voller unterdrückter Wut und Angst – gegenüber der deutschen Migrationspolitik und den Flüchtlingen selber. Für die Anderen wurde #Chemnitz zum Symbol eines neu aufflammenden Rechtsradikalismus, der auch vor dem Hitlergruss nicht Halt machte.
Der Meinungsgraben, der sich in Deutschland längst aufgetan hat, wurde in Chemnitz unübersehbar. Die Stadt wurde zum zweipoligen Magneten mit einer Sogwirkung auch auf jene, deren Meinung bisher nicht klar dem einen oder anderen Pol zuzuschreiben gewesen war.
Mit dem Solidaritätskonzert #wirsindmehr ging der letzte Abend von #Chemnitz zu Ende. Die Metapher verklingt. Wie geht es nun weiter mit der Stadt? Mit Deutschland? Chemnitz – und jetzt?
«Das waren Nazis»
Die beiden Seiten, in die Deutschland sich gespalten hat, «wird man so schnell nicht wieder zusammen bringen», sagt Tarik Abou-Chadi, Politikwissenschaftler der Universität Zürich und am Zentrum für Demokratie in Aarau. Ereignisse wie das Solidaritätskonzert #wirsindmehr «können diesen Graben nicht schliessen. Dialog und Gespräch wären nötig, aber sie werden zunehmend verweigert. Stattdessen dominieren Aus- und Abgrenzung», erklärt Rüdiger Schmitt-Beck, Politikwissenschaftler aus Mannheim.
«Die Verunsicherung bleibt», fügt der Basler Soziologe Ueli Mäder an, «und damit die populistischen und rechtsradikalen Tendenzen». Ursprung der Verunsicherung, von der Mäder spricht, war die Flüchtlingskrise von 2015. Die Zuwanderung aber hat längt abgenommen. Jetzt ginge es darum, sich an die Integration zu machen. Doch die Angst flaut nicht ab. «Rechte Kräfte sorgen ständig dafür, dass das Thema lebendig bleibt», sagt Schmitt-Beck.
Gewalt nichts Neues in Ost-Deutschland
Das Geschehene an sich sei gerade für den Osten Deutschlands allerdings nichts neues, betont Abou-Chadi. Altbekannt die Neo-Nazis, altbekannt auch die Gewalt. «Was sich verändert hat, ist die breite Akzeptanz im einigermassen gut verdienenden Mittelstand.» Früher war dort Empörung, jetzt Legitimation. Wer die grosse Mehrheit der Protestierenden als «besorgte Bürger» betrachte, liege falsch. «Das waren Nazis und solche, die entschieden haben, Schulter an Schulter mit ihnen zu gehen.» Und noch etwas habe sich verändert: «Es gibt jetzt ein politisches Vehikel, namentlich die AfD, das die Ansichten dieser Gruppe an die Öffentlichkeit bringt und im Parlament vertritt.»
Was tun gegen den Hass?
Was Deutschland jetzt brauche, sei «eine vertiefte Auseinandersetzung mit der rechtspopulistischen Haltung, die es ja nicht nur in Chemnitz gibt», sagt Mäder. Rassismus müsse aufs schärfste verurteilt werden. «Gleichzeitig dürfen wir die Menschen, die sich im aktuellen Kontext rassistisch verhalten haben, nicht als Rassisten abschreiben. Denn hinter der Fremdenfeindlichkeit steckt oft Angst», so der Soziologe. Er plädiert für den Dialog: «Auf der Strasse, im Supermarkt – das wichtigste ist, dass die Leute ihre Sicht ändern können.»
Seine Kollegen aus der Politikwissenschaft sehen das anders. Der Angst vor dem Fremden noch mehr politisches Gehör zu schenken, wäre wohl kontraproduktiv, sagt Schmitt-Beck: «Die Bevölkerung wird sich sagen, dass die Probleme ja wirklich gross sein müssen, wenn sogar etablierte Politiker ins selbe Horn stossen.»
Neue Themen finden
Vielmehr gehe es darum, eine neue politische Agenda zu setzen. «Die grossen Parteien dürfen sich ihre Themen nicht mehr länger von der AfD diktieren lassen»,so Abou-Chadi. Aktuell habe die rechtsradikale deutsche AfD nicht nur darum Einfluss auf das Parlament, weil sie 10 Prozent davon ausmache. «Die anderen Parteien nähern sich der AfD an, in der Hoffnung, deren Wähler zurück zu gewinnen. Was natürlich nicht funktioniert.»
Und neben der Situation im Westen, gäbe es auch anderswo Optimierungspotential: Was zudem viele vergessen, die gegen die Flüchtlinge aus Afrika schimpfen: «Dass die Wirtschaftslage dort in einem so schlechten Zustand ist, liegt auch an unserem Verhalten», so Mäder. Daran, dass der Westen in Billiglohnländern mit hohem Gewinn für sich selber produzieren und Rohstoffe beziehen könne. «Aktuell geht jeder Kaffee, den wir trinken, teilweise auf fremde Kosten», sagt Mäder. «Die beste Lösung ist nicht die, die am meisten Gewinn abwirft, sondern jene, die gerecht ist», so Mäder. Das beginne dann eben bei fair angebauten Kaffi.
Wo ist die Gegenmobilisierung?
Und auch Aktionen wie des grosse #wirsindmehr Konzert können zumindest ein Zeichen setzen: Weitaus mehr Leute haben sich dort eingefunden als bei den ausländerfeindlichen Kundgebungen in den Tagen zuvor. Das sei wichtig, weil die Welt - und jene Menschen, die zum Ziel der Hetzjagden geworden sind, dadurch eine Mehrheit auf ihrer Seite wissen. «Aber es war ein punktuelles Ereignis, das vermutlich nicht nachhaltig wirken wird. Nötig wäre eine dauerhafte Gegenmobilisierung», so Schmitt-Beck.