Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten löst politisches Erdbeben aus
Die Wahl des FDP-Landeschefs Thomas Kemmerich zum neuen thüringischen Ministerpräsidenten mit Unterstützung von CDU und AfD hat ein politisches Erdbeben ausgelöst.
Das Wichtigste in Kürze
- Bundes-CDU empfiehlt einstimmig Neuwahlen in Thüringen - SPD sieht Tabubruch.
Das Präsidium der Bundes-CDU empfehle einstimmig Neuwahlen, verkündete Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer am Mittwochabend. SPD, Linkspartei und Grüne kritisierten es als historischen Tabubruch, dass erstmals ein Ministerpräsident mithilfe der Stimmen einer Rechtsaussenpartei ins Amt gekommen sei.
Kramp-Karrenbauer warf ihren Parteikollegen in Thüringen vor, bei der Wahl gegen die Beschlüsse der Partei verstossen zu haben. Sie sehe «keine stabile Grundlage für den jetzt gewählten Ministerpräsidenten». Es sei nun an Kemmerich zu entscheiden, ob er «Ministerpräsident von Höckes Gnaden bleiben will oder nicht», sagte die CDU-Chefin mit Blick auf den rechtsaussen stehenden Thüringer Landes- und Fraktionschef der AfD, Björn Höcke.
Trotz zahlreicher entsprechender Forderungen lehnte Kemmerich Neuwahlen ab. «Demokraten sollten wissen, Neuwahlen sind keine Option», sagte er im ARD-«Brennpunkt». Die Arbeit beginne nun erst, im Parlament müssten die Parteien die Zusammenarbeit suchen. Er verwies darauf, dass bei vorgezogenen Neuwahlen Umfragen zufolge kaum ein anderes Ergebnis herauskommen würde als bei der Wahl vom Oktober vergangenen Jahres.
Im Erfurter Landtag hatte sich der FDP-Politiker überraschend im dritten Wahlgang gegen den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow von der Linken durchgesetzt. Unterstützt wurde er von CDU und AfD und erhielt bei der Abstimmung eine Stimme mehr als Ramelow. Der Liberale, der die kleinste Fraktion im Erfurter Landtag vertritt, wurde sofort vereidigt. Damit ist die von Ramelow angestrebte rot-rot-grüne Minderheitsregierung gescheitert.
Die Zustimmung von CDU und FDP zu einem auch von der AfD unterstützten Kandidaten rüttelt an einem Tabu. Thüringens CDU habe damit gegen den Unvereinbarkeitsbeschluss verstossen, der eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschliesst, sagte Kramp-Karrenbauer.
Die CSU-Führung forderte Neuwahlen. Die Wahl sei «ein schwerer Fehler, ein Sündenfall, der schnellstmöglich korrigiert werden muss», erklärte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Neuwahlen seien eine «logische Konsequenz».
Die Vorgänge in Erfurt belasten die grosse Koalition in Berlin. «Wir haben dringende Fragen an die CDU und werden diese zügig in einem Koalitionsausschuss klären», kündigte SPD-Kovorsitzende Saskia Esken an. In den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sprach sie von einem «abgekarteten Spiel» von FDP und CDU mit Hilfe der AfD und äusserte die Sorge, dies könne «zum Vorbild für andere Bundesländer» werden.
Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte, die Wahl in Erfurt habe «Auswirkungen weit über Thüringen hinaus. Es stellen sich für uns sehr ernste Fragen an die Spitze der Bundes-CDU».
FDP-Chef Christian Lindner brachte nach der Wahl seines Parteikollegen Kemmerich Neuwahlen ins Spiel, falls im Erfurter Landtag eine politische Blockade eintritt. «Sollten sich Union, SPD und Grüne einer Kooperation mit der neuen Regierung fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig.» Lindner appellierte an die drei Parteien, Kemmerichs Gesprächsangebot anzunehmen.
Diese lehnten das Angebot aber ab. «Thomas Kemmerich ist mit Hilfe der AfD ins Amt gekommen - das ist ein Pakt mit Faschisten und ein Fehler historischen Ausmasses», erklärten etwa die thüringischen Grünen.
Ramelow bezeichnete Kemmerichs Wahl als «widerliche Scharade». Grünen-Bundeschef Robert Habeck warf CDU und FDP vor, der AfD erstmals in Deutschland einen «Machtzugang» verschafft zu haben.
Kemmerich appellierte derweil an die «staatspolitische Verantwortung» der Parteien, um gemeinsame Lösungen zu finden. «Die Brandmauern gegenüber der AfD bleiben bestehen», beteuerte er.
Die AfD-Fraktionschefin im Bundestag, Alice Weidel, wertete die Umstände von Kemmerichs Wahl als Stärkung ihrer Partei. «An der AfD führt kein Weg mehr vorbei», twitterte sie.
Vor der Berliner FDP-Bundeszentrale sowie in den Städten Erfurt, Jena, Weimar, Gera, Gotha und Ilmenau gab es am Abend Demonstrationen.
Insgesamt haben die bisherigen Oppositionsparteien CDU, FDP und AfD im thüringischen Landtag zusammen 48 Sitze und damit sechs mehr als Rot-Rot-Grün. Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Der AfD-Bewerber Christoph Kindervater erhielt im dritten Wahlgang keine einzige Stimme mehr, weil die AfD-Fraktion offenbar mit grosser Mehrheit für Kemmerich votierte.